Eine Stadt, ein Abend, eine Halle, eine Vor- und eine Hauptband. Soweit nichts Besonderes. Und dennoch wird sich wohl jeder Konzertbesucher an die gestrige Nacht noch lange zurück erinnern. Zunächst auch nicht weiter erwähnenswert, denn die Berliner Party-Zaren Bonaparte sind allgemein für ihre exzessiven Auftritte bekannt. Für Vorbands gilt das eigentlich nicht. Gestern wird dieses Gesetz außer Kraft gesetzt.
Niemand Geringeres als Die Ärzte sind es nämlich, die sich die Ehre geben, den Abend in der berliner Columbia Halle zu eröffnen. Ein gut gehütetes Geheimnis, das nicht einmal die sonst so umtriebigen Ärzte-Fanclubs auf dem Zettel haben und somit nicht via Internet ankündigen. Umso größer ist der Jubel, als Farin Urlaub, Bela B. und Rod Gonzalez die Bühne in der prächtig gefüllten Halle betreten. Farin strahlt wie ein Honigkuchenpferd- die Überraschung ist mehr als gelungen.
Zuvor bahnen sich die drei Musiker gemeinsam mit Bonaparte-Kopf Tobias Jundt und dessen Kombo als Spielmannszug getarnt ihren Weg durch die Zuschauerreihen. Mit Pauken und Trompeten hinter sich, gibt Jundt den kauzigen Tambourmajor. „Wir sind keine Menschen“ erklingt: Der Zirkus ist in der Stadt.
„Wir sind eine kleine Band und freuen uns, heute Abend hier spielen zu dürfen. Wir haben die Bitte, dass ihr uns ein wenig mit Applaus unterstützt- unsere Lieder sind recht einfach“, grinst Farin. Das stimmt: Einfach sind die Lieder der Ärzte, einfach mitzusingen. DIE BERLINER BAND! beginnt ihr Heimspiel mit ihrer jüngsten Single-Auskopplung „Himmelblau“ und schiebt mit dem „Schunder Song“ einen Klassiker ihres breiten Hit-Portfolios nach. Ohnehin verdient es Respekt, wie einfach dem Trio die Selektion ihres umfassenden Repertoirs offensichtlich fällt. Die 45 Minuten sind selbstredend zu kurz, um alle Gassenhauer zu intonieren. Aber den Musikern gelingt es, einen gesunden Querschnitt ihrer über 20-jährigen Bandgeschichte auf die Bühne zu bringen. Bela darf sein wunderbares „Mysteryland“ genau so singen, wie Rob das dämonische „Anti-Zombi“. Außerdem spielt die Band mit „Die Wiking-Jugend hat mein Mädchen entführt“ eine deutsche Adaption des Songs „The KKK took my baby away“, ursprünglich von The Ramones. Es ist erfrischend, wie unprätentiös sich eine der erfolgreichsten Bands als Aufwärmprogramm für eine (bisher!) nicht ansatzweise so erfolgreiche Kombo betätigt. „Ihr seid alle wegen Bonaparte hier. Gebt mir ein Bon-apa-rte“, heizt Farin die ohnehin schon ausgelassene Stimmung der 2 500 Konzert-Gäste weiter auf. Die Ansagen sind spitzfindig und intelligent:“Nazis sind die Atomkraft der Zukunft!“ „Schrei nach Liebe“ folgt und das Publikum hält der Band das für diesen Song berüchtigte „Arschloch“ entgegen. Es bedarf eigentlich keiner Erwähnung, dass Die Ärzte weit mehr als eine simple Vorband sind und sich demnach während „Junge“ ein überdimensionaler Moshpit entwickelt. Dann ist Schluss- ohne Zugabe, die selbstredend gefordert wird. Die drei Musiker sind eben soziale und integäre Kollegen, die um ihre heutige Aufgabe wissen: Stimmung für die Hauptband machen. Auch wenn Bela ab und an den Text vergisst und Farin das ein odere andere Solo nicht in Perfektion hinbekommt, erfüllt das Trio ihre Mission natürlich mit Bravour. Die Berliner sind übrigens in der kommenden Woche unter dem Pseudonym Laternen Joe auf Club-Tour. Alle Termine sind bereits ausverkauft.
Das zweite Heimspiel folgt im Anschluss. Bonaparte kehren in die Haupstadt zurück und diese begrüßt ihre verlorenen Töchter und Söhne mit offenen Armen. In diesem Fall mit frenetischem Applaus und hysterischem Geschrei. Tobias Jundt ist in seinem Element und liefert früh die Antwort auf die Frage, ob es möglich ist, einen Ärzte-Auftritt noch toppen zu können. Der Party-Kaiser setzt dabei auf die absolute Mehrheit und befragt hierzu das Publikum, welches mit eindrucksvoller Zustimmung votiert: „Do you wanna party with the Bonaparte?- JAAAA!“ Die Ekstase kann beginnen.
Bei einem frühen „Anti, Anti“ springt das komplette Columbia, inklusive der Gäste auf den zum Bersten gefüllten Traversen im ersten Stock der Halle. Flüssigkeiten fliegen in die Menge und die Atmosphäre ist bereits zu diesem noch frühen Konzertzeitpunkt Schweiß getränkt. Spannung liegt in der Luft. Die vier Musiker präsentieren an diesem Abend keine Songauswahl, sonder schlicht und ergreifend nahezu alles, was bisher auf den veröffentlichten Tonträgern zu finden ist. Und das, ohne dabei den Eindruck zu erwecken, das Konzert unverhältnismäßig strecken zu wollen. Die Band spielt mit einer solchen Inbrunst, die natürlich auch die Tänzer wunderbar transportieren. Und so knattert der mit Helm und Fliegerbrille ausgestattete Canonman mit seinem mofaesquen Fahrrad über die Bühne, während der bärtige Lulu wie gewohnt seiner Buchse entledigt und dem Publikum sein entblößtes Hinterteil entgegen streckt. Barbusige Damen springen ins Publikum und lassen sich auf Händen durch die Menge tragen. Vorne springt Jundt wie ein Floh auf und ab und verschwindet ebenfalls inmitten des ausrastenden Mobs. Der Sänger und Gitarrist vollführt die Entgrenzung par exellence und sein Gefolge ist ihm hörig.
Stroboskop und Leinwand machen das Konzert zu einem multimedialen Erlebnis, worunter die Musikalität allerdings keinesfalls leidet. Während „Fly a plane into you“ greifen zeitweise zu den Drum-Sticks und verwandeln die Band in ein Percussion-Esemble. Anschließend verschwindet die Band ins Off. Männer in roten Overalls betreten die Bühne, schaffen so gut es geht Ordnung, während auf der Leinwand ein Stummfilm zu sehen ist, der sowohl in englischer, als auch französischer Sprache untertitelt wird.
Die bunte Haufen kehrt zurück. Lulu als dekadenter König, der zuerst die Zuhörer in der ersten Reihe und dann sich selber mit zwei Flaschen Sekt übergießt. So sehr ein Konzert sonst als interaktiver Akt zwischen Band und Publikum gesehen wird- hier wird diese Ansicht auf die Spitze getrieben.
Nahezu jeder Song löst eine gleichermaßen große Begeisterung bei der sich ständig in Bewegung befindenden Masse aus. Es scheint, als könnte die Band trotzdem sie bereits etliche ihrer Hits in die Menge gefeuert, das Vorherige zuverlässig steigern. Und so ist es. Die Band hat immer noch einen Gassenhauer im Köcher. Nach „Too much“ gönnen sich die Musiker eine obligatorisch Verschnaufspause, um anschließend die verlangte Zugabe zu gewähren: „I’m against it“ und „Gigolo Vagabundo“ lassen die begeisterten Besucher nochmals tanzen. Jundts Haarpracht ist mittlerweile schweißgetränkt und auch seine Mitstreiter haben sich aufgrund der Hitze bis auf ein Minimum ihrer Kleidung entledigt. Nach der zweiten Zugabe „Bienvenido“ endet ein großartiges Doppelkonzert.
Ein Abend, wie man ihn fraglos nicht oft erlebt: Zwei Bands und netto drei Stunden Konzert-Exzess sind das Fazit dieser Veranstaltung. Es ist ein überraschender und elektrisierendes Erlebnis zugleich. Wie das Sahnehäubchen auf dem Sahnehäubchen- der Vergleich hingt hier ein wenig. Kurz um: Bonaparte und Die Ärzte sind weiterhin unterwegs, aber die Erinnerung an diese wunderbare Nacht bleibt in Berlin.
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Setlist Die Ärzte: Himmelblau/Schunder Song/Lied vom Scheitern/Die Wiking-Jugend hat mein Mädchen enführt/Anti-Zombie/Mysteryland/Unrockbar/Schrei nach Liebe/Perfekt/Deine Schuld/Junge
Setlist Bonaparte: Do you wanna party/Tu mes mola/Wrygdwylife/Anti anti/Ego/L’état c’est moi/Adabmal/Boycott everything/My horse likes you/A-ah-ah/Fly a plane into you/Rave rave rave/Wir sind keine Menschen/Computer in love/My body is a battlefield/Technologya/I can’t dance/Blow it up/Who took the pill/Too much//No,I’m against it/Gigolo Vagabundo//Bienvenido
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Laternen Joe aka Die Ärzte auf Tour
18.04.11 Zwickau/ Ballhaus Neue Welt
19.04.11 Fürstenfeldbruck/ Veranstaltungsforum
21.04.11 (A)Graz/ Orpheum
23.04.11 (CH)Soluthum/ Kofmehl
24.04.11 Kaiserslautern/ Kammgarn
26.04.11 Ulm/ Roxy
28.04.11 Pahlden/ Eiderlandhalle
29.04.11 Osterholz-Scharmbeck/ Stadthalle
Alle Termine sind bereits ausverkauft!