Im 25. Jahr der Bandgeschichte erscheint mit „Die Entstehung der Nacht“ das zehnte Studioalbum der Punk-Band Die Goldenen Zitronen. Ja: Punk! Auf ihrer aktuellen Platte beweisen die Mannen um Schorsch Kamerun, dass dies – wenn man schubladenartige Zuschreibungen überhaupt benutzen mag – in all ihrer Diffusität die einzig passende Stilzuschreibung für die Hamburger Band ist.
Krautig-disharmonisch und zugleich im Stile des Cabarets schwingt sich das Intro „Zeitschleifen“ empor und kreist doch gleichzeitig in sich selbst: Töne, die keinen Einsatz haben und keinen Aushall finden. Töne, die stattfinden. Verdopplungen. Disharmonien. Geklimper aus dem Krisen-Horror-Laden. “ D i e “ K r i s e (Was ist das? Und was hat das alles bitte [noch] mit dem Kapitalismus zutun?) hat uns infiziert – vielleicht gerade durch das permanente Verleugnen und Umschiffen des ausgereitzt-überfordendes Themas, hat sich diese (mediale) Blase allem und allen eingeschrieben. Ein neues Album einer Band, wie Die Goldenen Zitronen wird – ob intendiert oder nicht – in dieser Zeit garantiert in den Kontext einer solcher „Erscheinung“ gestellt.
„Börsen Crashen“ nun nimmt diesen Faden erstmals direkt auf. Und bietet dennoch keine Antworten: Die Zuständigen klagten, gaben sich besorgt und fest entschlossen, es beim Alten zu belassen. „Die“ Krise wird hier vor allem zu einer Krise der Erkenntnis. Klingt so die Zeit nach den Parolen? Klingt so der postmoderne Punk? (Gibt es so etwas überhaupt? Überhaupt: Punk?!) Klingt so etwa die Zeit der Krise, eine entfremdete Musik – der intransparente, dialektische Punk / Pop?
Schorsch Kamerun rennt derweil immer noch mit seiner schneidenden Stimme gegen die Harmonie an, bohrt sich mit seinen Worten ins Hirn. „Bloß weil ich friere“ ist dafür das perfekte Beispiel. Beinahe in der Art eines Hörspiels plaudert sich Kamerun in Rage – zwischen existentiellen Fragen und banalen Alltagsbeobachtungen kommt er vom Hundertsten ins Tausendste:
Es ist erschreckend. Es ist erschreckend, wie gerne ich manche Zeitungen lese, obwohl ich sie eigentlich hasse. Apropos hassen: Ich halte brennende Autos für ein starkes Ausdrucksmittel, getraue mich aber nicht eines anzuzünden, da ich viele Freunde habe, die eine Beschädigung ihres Autos für einen Angriff auf ihre Persönlichkalten würden. Bloß weil ich friere, ist noch lange nicht Winter.
Die Stimme sei immer noch das erste Instrument der Band, heißt es. Derweil unterlässt man das Anschmiegen an tradierte elektronische Strukturen, wie man es noch auf „Lenin“ unternahm und setzt elektronische Mittel vielmehr im Sinne einer Noise-/Kraut- oder genuinen Punkmusik ein. Man setzt auf abgehalfterte Klänge, verstimmte Klaviere, eine Blockföte und selbst eigentlich melodische Instrumente werden perkussiv eingesetzt. Das Ganze klingt dabei manchmal charmant nach einer Musik wie sie NDW-Bands abseits des Mainstreams in den Achtzigern fabrizierten. „Wir verlassen die Erde“ erinnert beispielsweise an irgendetwas zwischen Grauzone, Die Tödliche Doris und ein wenig Neu! aus den Siebzigern.
Auch bei „Des Landeshauptmanns letzter Weg“ landet man erneut bei den Achtzigern. (Landet man nicht immer bei den Achtzigern? Sind die Achtziger nicht beständiger Dorn unserer kulturellen Identität? Überhaupt: die Achtziger?!) Hier klingen Die Goldenen Zitronen so wie alle in den Achtziger Jahren geklungen haben – zumindest in Manchester. Also beinahe alle – nur nicht sie selbst. Man holt es nun mit Post-Punk-Gitarren, die verzerrt wimmern, nach und nähert sich textlich den kollektiven Gefühlen der Gegenwart an (gibt es die?) und kontrastiert sie mit identitärer (National-)Geschichte:
Durch den Nebel bricht plötzlich die Sonne hervor
Autos stehen still
Sich verneigend das einfache Volk
Und ein Schweigen war
Und ein Schwelgen
Und ein Weinen immerfort
Das Lied begeistert auf leichte Art wie lange kein Song der verqueren, avantgardistisch-behäbigen Klang/Flächen der Goldenen Zitronen.
Begeisternd ebenso sind die erneut ungewöhnliche Kollaborationen, welche die Zitronen für „Die Entstehung der Nacht“ eingegangen sind: DJ Mark Stewart „rapt“ in „Drop The Stylist“ über „corporate cocksuckers“ und wird von Melissa Logans Gesang kontrastiert. Die Sängerin der Gruppe Chicks On Speed hatte schon auf dem letzten Studioalbum einen Gastauftritt. Auch Jakobus Siebels von JaKönigJa, sowie Peggy Kastaras, die das Arragement instrumental unterstützen, sind alte Bekannte und Freunde. Ein besonderes Bonbon ist der Auftritt von Michaela Meliàn. Die Musikerin der legendären Band F.S.K bildet mit ihrer Coversion „Beautiful People“ den einzigen Ruhepol auf dem aktuellen Album. Erstmals werden hier Harmonien zugelassen.
Während Zeitgenossen der deutschen Musiklandschaft nach einer Modernisierung suchen, wie derzeit Die Sterne, oder ewig in Vergangenheit schweben und dabei blass werden, wie Fehlfarben, bieten Die Goldenen Zitronen den einzig gangbaren Weg – den unbeschreiblichen, entrückten, un/orientierten Weg der Gegenwart.
„Die Entstehung der Nacht“ erscheint am 16. Oktober 2009.
Eine der besten Platten des Jahres. Und eine fabelhafte Rezension dazu!