Alles auf Anfang? Mit einigen Veränderungen stach am vergangenen Wochenende die MS Dockville im Hamburger Hafen in See. Weit über 10 000 Besucher erlebten Auftritte aller musikalischer Couleur und ein vielfältiges Kunstprogramm in neu gestalteter Kulisse. Warum das Dockville auf dem Prinzip konstanter Veränderung beruht und welche Bands das Publikum besonders verzaubert haben, lest ihr in unserem ausführlichen Bericht.
Bei der Ankunft auf dem Festivalgelände ist zunächst einmal freudig festzustellen, dass die auffälligsten Probleme vom Vorjahr größtenteils beseitigt wurden. Die neue Verteilung der Einlasspunkte auf das Festivalgelände mindert das menschliche Verkehrsaufkommen beträchtlich, zudem wird durch gratis verteilte Plastikbecher am Campingplatzausgang jedem Besucher die Möglichkeit gegeben, sein Bier mit auf das Festivalgelände zu nehmen – das ist human. Auch die Infrastruktur scheint verbessert, denn mehr Bierstände als letztes Jahr sorgen dafür, dass meterlange Schlangen der Vergangenheit angehören. Das Festivalgelände ist insgesamt in die Länge gezogen und somit entzerrt worden – eine gute Idee. Genau wie die Umbennenung der Bühnen, diese sind nicht nur zahlreicher, sondern tragen nun einem Schiff nachempfundene Namen, von Groß- und Vorschot, über Achterdeck und Butterland bis hin zum Maschinenraum. Dem eigentlichen musikalisch-künstlerischen Vergnügen kann also nichts mehr im Wege stehen.
Am Freitag geht es zunächst auf dem Großschot mit Portugal. The Man los. Aus ihren kurzen 50 Minuten Spielzeit holen die Amerikaner alles an Blues, Rock und Soul heraus, man kann wohl ohne Zweifel von einem Greatest Hits-Set sprechen, bei mittlerweile fünf Alben. Trotzdem hätte mehr Spielzeit dem Auftritt sicherlich gut getan, denn eigentlich sind die Vier festivalerfahrene Routiniers, die seit Jahren unermüdlich touren und zu einer prima Liveband geworden sind. Trotzdem ein gelunger Einstieg in das diesjährige Dockville Festival.
Nach einem kurzen Spaziergang über den Deich geht es auf dem Vorschot mit Sophie Hunger weiter. Die Schweizerin hat eine illustre Band um sich geschart um ihre extravaganten Songkompositionen zwischen Pop und eigenwilligem Jazz auf die Bühne zu bringen. Je mehr Zeit verstreicht, desto mehr wird klar, dass diese Musik – und vor allem diese Frau – in kein Schema zu pressen sind. Unruhig und seltsam wissend wechselt Sophie Hunger Blicke mit dem Publikum, zwischen den Songs überrascht ihr Akzent, der so gar nicht zur Musik passen zu scheint. Und dann auch noch ihr Song 1983: „1983, wo sind deine Stimmen? Wo sind deine Ausnahmen, deine Mongoloiden? Wo sind deine Dichter, deine Zweifel, deine Maden? Was hat es gekostet, immer besser zu leben? Bitte sing mir ein Volkslied, auch wenn es das nicht mehr gibt.“ Irgendwie verrückt, irgendwie ziemlich genial.
Für einen abwechslungsreichen Übergang sorgen dann Shantel und sein Bucovina Orkestar. Die Tanzgarantie für diese Formation ist auch weiterhin uneingeschränkt zu erteilen, das wird spätestens beim Hit „Disko Partizani“ allen klar: Osteuropäische Rhythmen, zeitgemäß intepretiert und umgesetzt. Zum ersten Mal erstreckt sich ein flächiges Tanzgemenge vor der Bühne, es gefeiert, gelacht und getrunken. Auf alle Fälle ist der Auftritt der Band um den Frankfurter Musiker Stefan Hantel eine Bereicherung für das Dockville, dessen Kanon sich größtenteils eher abseits von Reggae und Ähnlichem befindet.
Als Headliner gehört die Bühne am Freitagabend Wir Sind Helden. Nach zweijähriger Doppelbabypause stehen die vier Berliner endlich wieder auf den Bühnen der Republik. Das neue Album „Bring mich nach Hause“ steht in den Startlöchern, eine Tour folgt. Dabei wirkt es bei den ersten Klängen von „Denkmal“ so, als wären die Helden nie weggewesen, zu fest haben sich vor allem die Songs von „Die Reklamation“ ins Gedächtnis eingebrannt. Im Publikum breitet sich merkliche Nostalgie aus und man denkt sich irgendwann: Wer bitte kann diese Band nicht sympathisch finden? Der Auftritt ist jedenfalls wunderbar, so viele lächelnde Gesichter im Publikum hat man bei keinem anderen Auftritt auf dem Dockville sehen können.
Die schon ausgelassene Stimmung wird dann weiter im Butterland bei Efdemin zelebriert. Der Berliner DJ kondensiert seit Jahren das Beste im Bereich elektronischer Musik auf seinen Alben – und das merkt man. Im Hintergrund darf sich das Publikum mit an Holzlatten montierten Pappschildern vergnügen, die den Tanzenden zu einem Schattenspiel gereichen. Nur irgendwann wird ein überdimensionaler Papppenis zweckentfremdet und zur Attacke auf den DJ missbraucht. Dieser nimmt’s jedoch mit Humor und lässt sich nicht beirren. Ein berauschender Abschluss des ersten Festivaltages.
Der Zweite startet ziemlich früh: Bereits um 13:30 Uhr entern Post War Years aus London das Vorschot. Der an die Foals gemahnte frickelig-schwebende Indiepop überzeugt trotzdem durch seine Eigenständigkeit und auch die Melodien bleiben hängen. In dieser Band steckt das Potential, in Zukunft ein Festival im Dunklen bespielen zu dürfen. Genug Zeit haben sie wohl, dem äußeren Anschein nach haben die Bandmitglieder nämlich noch nicht alle die Völljährigkeit erreicht.
Wenig später gehört das Großschot den Isländern von Seabear, einer Art Allstar-Group von kreativen Köpfen der Vulkaninsel. Das Album „We Built A Fire“ ist ob seiner Schönheit über jeden Zweifel erhaben, doch so richtig will der Funke live nicht überspringen. Das ganze leidenschaftslos zu nennen wäre sicherlich gemein, doch der emotionale Transport der Musik gelingt nicht – das ist bedauernswert. Vielleicht braucht es wieder verschneite Winterabende, um das Konzert retrospektiv doch noch angemessen würdigen zu können.
Stimmungsmache ist dann hingegen bei Friska Viljor angesagt. Die unermüdlich durch den deutschen Sprachraum tourenden Schweden bespaßen inzwischen auf so ziemlich jedem erdenklichen Festival das Publikum. Dass sich die Musik trotzdem keinesfalls erschöpft und abnutzt, darf man der Formation wohl als Kompliment auslegen. Die Besucher haben auf jeden Fall uneingeschränkt Spaß mit diesem Schwedenhappen. Und an die wunderbar klischeeschwedische Bühnenaura des Keyboarders kommt sowieso schwer jemand heran.
Der Bombay Bicycle Club serviert frische Gitarrentöne, nur ähneln sich die Songs untereinander stark. Da wäre ein Clubkonzert mit beschränktem Platzangebot besser gekommen als die Hauptbühne. Wie diese allerdings voll auszunutzen ist, beweisen im Folgenden Bonaparte. Das internationale Kollektiv hat schon seit langem eine extravagante Show zu seinem Markenzeichen erkoren und auch heute fliegen wieder Bananen, die fantasievollen Kostüme fallen langsam zu Gunsten bloßer Nacktheit – und die Menge feiert’s ab. Zum Glück ist die musikalische Substanz bei Bonaparte auch durchaus vorhanden, so dass trotz der irrsinnigen Freakshow die Erinnerung an ein gutes Konzert hängen bleibt. Und eines ist wohl auch klar, bei derartiger Extravaganz bleibt zumindest kein Betrachter gleichgültig im Ungefähren stecken.
Einige Zeit später steht der zweite Headliner des Dockville-Festivals an: Die Klaxons. Genau wie Wir sind Helden vom Vorabend haben die Herren eine lange Tourabstinenz hinter sich und spielen das erste Mal wieder vor einem größerem Publikum. Von der Nervösität ist allerdings nichts zu spüren, routiniert zieht die Band ihr Programm vom Leder. Man bekommt viel vom neuen Album „Surfing The Void“ zu hören, das demnach ähnlich wie das erste klingen wird. Eigentlich kein Problem, bei dieser Hitdichte. Die Spielzeit von anderthalb Stunden sind jedoch zu viel für die Londoner, bereits nach etwas über einer Stunde ist Schluss. Ein paar mehr Songs hätten es durchaus sein können, weniger Getue, mehr Musik, das wäre schön gewesen.
Das erweiterte Nachtprogramm des Dockville erweist sich dann auch am Sonnabend als gelungen, im Maschinenraum wird zu DJ Phono und anschließend zu Fritz Kalkbrenner ausgelassen gefeiert und geschwitzt. Die bewegliche Bühnendekoration sorgt bei vielen bereits mit der bloßen Unverständlichkeit ihrer Funktionsweise für Faszination.
Nach einer kurzen Festivalnacht steht am Sonntag wieder gegen Mittag eine erfolgsversprechende Nachwuchsband auf dem Programm. In England bereits von renommierten Musikzeitschriften für ihr kommendes Album „Man Alive“ mit Vorschusslorbeeren bedacht, stellen Everything Everything diese auch auf dem Dockville unter Beweis – und das mit Nachdruck. Verschachtelte und völlig eigenständig klingende Songs wachsen den Zuhörern ins Ohr und bleiben dort sofort hängen. Das klingt frisch und begehrenswert. Preisfrage: Und woher kommen die vier Jungs? Natürlich aus dem UK! Überhaupt, wie viele hochkarätige Nachwuchsbands von der Insel dieses Jahr wieder deutsche Festivalbühnen im Mittagsprogramm stürmen ist erstaunlich. Everything Everything sind jedenfalls ganz großes englisches Rasentennis.
Passend zur Tea Time geht es dann mit der schottischen Band We Were Promised Jetpacks weiter. Dazu öffnet der Himmel seine Schleusen und gibt schon mal einen Vorgeschmack auf den späteren Abend. Die Glasgower um den stimmgewaltigen Sänger Adam Thompson schleudern die Stücke ihres gleichnamigen Debütalbums routiniert und ohne Umschweife in den Hamburger Regen. Doch wird man den Gedanken nicht los, dass das alles auf Platte irgendwie tighter, irgendwie besser klingt.
Die dritte Band des Tages – die dritte aus dem Vereinigten Königreich: Good Shoes stehen auf dem Programm. Diese haben sichtlichen Spaß an ihrer Performance und werden in den ersten Reihen regelrecht abgefeiert. Spätestens beim Song „Morden“, benannt nach einem Londoner Stadtteil und gleichzeitig der Heimat von Good Shoes, tritt die feine Selbstironie zu Tage mit der die Band ihr Machwerk würzt. Gut, dass das Ganze trotzdem nicht zu scharf schmeckt.
Auf dem Vorschot wärmen sich inzwischen Fanfarlo auf. Die Londoner (oh Wunder) liefern dann auch sogleich ein absolutes Festivalhighlight. Die Songs des Debütalbums „Reservoir“ werden teilweise fünfstimmig im Chor vorgetragen, und das mit einer Inbrunst und Hingabe, die verstummen lässt. Nach 50 Minuten ist die wundervolle Liveperformance leider schon vorbei, die Magie der nach einer Figur des französischen Dichters Charles Baudelaire benannten Band jedoch bleibt. Das war nicht ganz von dieser Welt.
Noch völlig verzaubert ist es dann auch kein Problem die schrecklichen The Drums über sich ergehen zu lassen. Vier Überposer aus NYC spielen abgeranzten Beach Boys-Soundalike-Müll. Das ist völlig belanglos und musikalisch grottenschlecht. Hier zählt das Aussehen der Bandmitglieder eindeutig mehr als auch nur der einzelnste Ton. Traurig genug, dass diese „Band“ dann auch noch von den meisten Zuschauern kritiklos abgefeiert wird.
Nach diesem Totalausfall wartet allerdings als Festivalabschluss und ganz besondere Performance der Auftritt von Hallogallo 2010 auf die Besucher. Diese ziehen dem allerdings größtenteils Jan Delay & Disko No. 1 vor, so dass nur rund zweihundert Zuschauer am Vorschot in freudiger Erwartung aufgereiht sind. Was ist Hallogallo 2010? Michael Rother, Gitarrist und neben Klaus Dinger Kopf der deutschen Krautrock-Band Neu!, die in den siebziger Jahren große Erfolge feierte, bringt mit zwei Freunden Songfragmente von damals in neuem Gewand auf die Bühne. Und diese Freunde sind keine geringeren als Steve Shelley von Sonic Youth und Aaron Mullan von den Tall Firs. Was dann tatsächlich passiert sind anderthalb Stunden hochexperimentelle Musik, die faszinieren, verwirren und fordern. Getragen von nahezu endlos wiederholten Grundrhythmen webt Rother mit Gitarre und Synthesizer ein kaum fassbares Soundkompositum ein. Die Musik oszilliert auf verschiedensten Spuren, die auseinander driften und wieder zusammen finden, doch stets in einer ganz anderen Sphäre zu schweben scheinen. So wird der Geist von Neu! wiederbelebt und doch ist klar, dass Hallogallo 2010 eine eigenständige Band sind. Ein großer Abschluss des diesjährigen Dockville-Festivals, begleitet von einem Gewitter mit Starkregen, das aber fast zur Performance zu passen scheint. Zum Schluss harren noch rund 30 Fans vor der Bühne aus, minutenlang werden im strömenden Regen Zugabenrufe skandiert, es klingt als stünden dort fünfmal so viele Leute. Doch das irgendwann geht das Licht an und auch den letzten wird klar: das war’s!
Das Dockville-Festival bricht zu neuen Ufern auf. Nächstes Jahr wird es offiziell in MS Dockville umbenannt. Der Grund: Urheberrechtsfragen mit einem gleichnamigen Verein aus Süddeutschland. Beide sind übrigens nach Lars Von Triers Film Dogville benannt. Zudem bringen prekäre Eigentumsverhältnisse die Organisatoren zunehmend in Bedrängnis, denn das gepachtete Gelände des Festivals ist begehrter Boden für Industriekonzerne. Käme es zu einem Verkauf, wäre die Existenz des Dockville in Wilhelmsburg Geschichte. Dies wäre bedauerlich, kommt es den Machern des Festivals doch gerade darauf an, dem „Problemstadtteil“ Wilhelmsburg kulturell unter die Arme zu greifen. Das kostenfreie Ferienprogramm „Lüttville“ bietet bereits Wilhelmsburger Kindern die Möglichkeit, sich kreativ auszuleben und zu bilden. Doch dazu braucht es innerstädtische Freiräume wie das Gelände am Reiherstieg. Dass zunehmende Industriebebauung die Lebensqualität des Stadtteils nicht eben steigern würde, versteht sich auch von selbst.
Mit der Internationalen Bauausstellung und der Internationalen Gartenschau, beide im Jahr 2013, werfen zudem zwei Großereignisse ihre Schatten voraus. Es wird viel neu gestaltet, verändert und auch vernichtet werden. Die spannende Frage für das Dockville ist, wie es sich im Spannungsfeld dieser Ereignisse behaupten wird. Mit der Kunstausstellung „Recreation“ wurden bereits im Vorfeld des Festivalwochenendes kreative Konzepte für eine Gestaltung urbanen Freiraumes reflektiert. Wie sich das Gesicht Wilhelmsburgs nachhaltig verändern wird, bleibt noch abzuwarten, zu hoffen ist allerdings inständig, dass die MS Dockville auch in den kommenden Jahren ihre Anlegestelle finden wird.
Zur Photogalerie des diesjährigen Dockville-Festivals geht es hier entlang.
Ein ausführliches Interview mit Jean Rehders, einem der Köpfe hinter dem Dockville, lest ihr hier.
Schöner Artikel kann im Gros auch so zustimmen.Jedoch fand ich die Situation für die Festivalbesucher die mit den Auto angereist sind gelinde gesagt bescheiden.Ich erwarte ja keine Parkplätze(sind ja schließlich in Hamburg),aber eine Parkzone, in der man seine Sachen abladen konnte wäre gur gewesen(gab´s wurde aber irgendwann gesperrt).Wenn wir nicht illegalerweise am Seitenstreifen unser Gepäck ausgeladen hätten,wäre ein Fußmarsch von 20min notwendig gewesen um zum Festivalgelände zu kommen.Ansonsten war es ein super Festival,zu dem ich gerne wieder kommen werde.