Das Reeperbahn Festival ist schon wieder ein paar Tage her, aber die Erinnerungen sind noch präsent. Gerade jetzt, wo das düstere Herbstwetter Einzug nimmt, besinnt man sich gerne auf das Wochenende zurück. Bei dem verregneten Festival’sommer‘, den wir dieses Jahr erleiden mussten, war das Sweatshirt-Wetter eine wirkliche Wohltat. Doch natürlich tragen auch die musikalischen Erlebnisse zur schönen Erinnerung bei. Dazu jetzt mehr!
Wie jedes Jahr war man auch 2011 von der Vielfalt des Programms förmlich erschlagen. Über 200 Künstler in 40 verschiedenen Locations sorgen dafür, dass jeder Besucher sich sein ganz eigenes Programm zusammenstellen kann. So ist es klar, dass auch bei diesem Bericht keinesfalls objektiv vom Festival erzählt werden kann, da man nur ein kleines Stück vom großen Ganzen miterlebt. Im Folgenden also ein Einblick in die Konzerte, die ich mitnehmen konnte.
Der Donnerstag begann mit der Lesung von Torsun im Imperial Theater. Den meisten wird er als Sänger von Egotronic bekannt sein, doch ist er nun auch unter die Schriftsteller gegangen. Gemeinsam mit seinem langjährigen Wegbegleiter Kulla hat er das Buch „Raven wegen Deutschland“ geschrieben. Das Hamburger Publikum hatte die Ehre, als eine der ersten ein paar Takte aus dem bisher nicht veröffentlichte Werk zu hören zu bekommen. Angesichts der frühen Stunden war das Imperial Theater nur teilweise gefüllt und die Lesung ließ eine gemütliche und persönliche Stimmung aufkommen. Torsun startete mit einem Trailer, den man inzwischen auch online ansehen kann. Wie schon dort klar wird: Bei diesem Buch handelt es sich um die Geschichte von Egotronic aus der Sicht von Torsun. Das Jahr 2007, der plötzliche Erfolg mit der Band und vor allem das Drumherum bestehend aus Exzess und wilder Feierei stehen im Zentrum der Erzählungen. Man bekommt einen Einblick in das Leben von Torsun. Er erzählt so leger und intim, dass man beim Zuhören fast das Gefühl bekommt, selbst dabei gewesen zu sein. Außerdem wird sich „Raven wegen Deutschland“ perfekt als Drogenratgeber eignen, denn selten wird die Wirkungsweise von Rauschmitteln so direkt beschrieben wie hier. Torsun erzählt, wieso man nur einziges Mal in Leben MDMA konsumieren sollte, wie sich ein Ketamin-Rausch anfühlt und was passiert, wenn man nach zwei schlaflosen und verballerten Nächten und einem Auto voller Kokain an einer Tankstelle landet, an der auch die Polizei Halt gemacht hat. Die Geschichten sind realitätsnah und humorvoll beschrieben, doch zeigen auch die Schattenseiten auf, die ein solcher Lebensstil mit sich bringt. An diesem Buch werden sich mit Sicherheit die Geister scheiden. Aber fest steht: Die Lesung im Imperial Theater war genial, das Publikum war begeistert und auch Torsun hatte offensichtlich Spaß an der Sache. Nach der Lesung hatten wir ein Interview mit ihm zu dem Buch, das hier angesehen werden kann.
Nach dem Interview ging es für mich weiter zur Hasenschaukel. Der Don und Daniel standen auf dem Programm. Wer sich an unseren zehnjährigen Mainstage-Geburtstag im Molotow zurück erinnert: Dort hatten wir sie auch mit im Boot.
Mitglieder der Band sind Deniz, der sonst bei Herrenmagazin zum Mikrofon greift, sowie sein Cousin Till und sein Freund Daniel. Diese drei Charaktere sind in Kombination nicht nur wunderbare Musiker, sondern auch geborene Entertainer! Beide Qualitäten stellten sie auch an diesem Abend in der Hasenschaukel wieder zur Schau. Die gemütliche Location in einer Seitenstraße der Reeperbahn war bis zum Bersten gefüllt, sodass einige der Zuschauer draußen bleiben mussten. Doch auch dort bekommt man von der Akustik noch etwas mit und kann durch das Schaufenster einige Blicke erhaschen. Der Don und Daniel spielten Songs wie „J“, oder „Istanbul“, die jedem sofort im Ohr bleiben, der sie einmal live hören konnte. Auf Platte gibt es bisher leider nichts, aber das ist ja hoffentlich nur noch eine Frage der Zeit. Herzzereißende Texte und die akustische Gitarrenmusik sorgten für andächtige Stille während der Songs. Doch kaum war der Klang verstummt, begann das Trio auf der Bühne herum zu kaspern. Das ist gut so und lockert die Stimmung auf. Der Don und Daniel machen einfach so viel richtig, dass selbst die vereinzelten Patzer beim Spielen wie ein Teil des Plans wirken. Einfach sympathisch! Nach dem Konzert sollte für mich leider schon Schluss sein – die Donnerstags-Falle. Wer noch länger unterwegs sein konnte, durfte noch Bands wie Friska Viljor und Fuck Art Let’s Dance, sowie Touchy Mob oder Ira Atari sehen.
Aber die Trauer über die verpassten Acts war schnell vergessen, denn der Freitag sollte genau so spannend weitergehen. Die Lokalmatadoren von Findus eröffneten den Abend im Docks mitten auf der Reeperbahn. Auf der Bühne, wo schon große Namen wie Dinosaur Jr, Justice oder Interpol Auftritte absolvierten, standen nun die vier Jungs von Findus. Doch sowohl von der Größe der Location als auch von dem Rockpalast Filmteam, das alle Kameras auf die Bühne richtete, ließen sich Findus nicht beirren. Sie spielten ihr Konzert wie gewohnt energetisch. Es ist immer wieder eine Freude, ihnen beim Spielen zuzusehen, weil man merkt, dass sie wirklich großen Spaß an der Sache haben. Sänger Lüam sprintete wie wild über die Bühne, sprang umher und enterte nicht nur die Boxen am Bühnenrand, sondern schließlich auch den Saal. Er kletterte über das Gitter des Fotograbens und blieb für eine Weile im Publikum. Es wurde einfach nicht langweilig. Sie spielten die besten Songs ihrer zwei Alben und vor allem „Hafencity“ und „Gehen im Schnee“ sorgten für Begeisterung. Im Publikum wurde mitgesungen und in den vorderen Reihen ausgiebig getanzt. Ein tolles Konzert, um den Abend einzuläuten!
Danach entschied ich mich für Jack Beauregard in der St. Pauli Kirche. Eine Location, von der ich bisher nichtmal wusste, dass sie existiert! Beim Reeperbahn Festival lernt man viel Neues kennen. Es handelt sich wirklich um eine Kirche, die für die Zeit des Festivals in eine Bühne umgewandelt wurde. Die Atmosphäre ist einmalig und das alte Gemäuer der Kirche wurde passend beleuchtet. Die Musik von Jack Beauregard passte perfekt dorthin. Die Songs sind so zart und schafften es trotzdem, mit ihrem Arrangement den Raum der Kirche klanglich auszufüllen. Sie spielten Songs ihres aktuellen Albums „The magazines you read“, wie „You drew a line“ oder „Hollywood“ und zogen das Publikum in ihren Bann. Schade nur, dass manche das Besondere an diesem Auftritt nicht zu würdigen wussten, denn in dem ansonsten besinnlich lauschenden Publikum gab es einige Spezialisten, die mit ständigem Getuschel das Bild trüben mussten. Trotzdem bleibt das Konzert in schöner Erinnerung.
Zeit für einen harten Cut, denn als nächstes stand das Converse Silent DJ Battle Open Air am Spielbudenplatz auf dem Programm. Das Konzept ist so simpel wie genial: Jeder, der teilnimmt, bekommt einen Kopfhörer aufgesetzt. So kann man sich zwischen den beiden auflegenden DJs entscheiden und den Kanal wechseln, wann immer man möchte. Und das Beste: Von der Musik bekommt sonst niemand etwas mit. Nimmt man den Kopfhörer ab, fühlt man sich wie ein Tauber auf einer Party. Eine witzige Idee, die aufgeht. An diesem Abend ist Torsun gegen das Bodi Bill DJ-Team angetreten. Da beide eine ähnliche Musikrichtung verfolgen, machte das Wechseln der Kanäle leider nur einen geringen Unterschied. So tanzte das Publikum einheitlich zu diversen House-und Electro-Tracks. Es hat Spaß gemacht, das ist keine Frage. Doch ist das Ganze sicherlich noch viel interessanter mitzuerleben, sobald zwei DJs mit vollkommen unterschiedlichen Stilen gegeneinander auflegen.
Nachdem dort bereits ordentlich getanzt wurde, war man in optimaler Stimmung für das nun folgende Konzert von Der Tante Renate im Uebel&Gefährlich. Trotz der bereits recht weit fortgeschrittenen Nacht hatten sich noch eine Menge Leute dorthin verirrt. Norman Kolodziej betrat die düstere Bühne und zog sein Ding durch. Der Fokus des Auftritts lag auf den Brettern des aktuellen Albums „H4xX02“. Die Nebelmaschine und der grellgrüne Laser waren in Hochbetrieb und heizten die Stimmung an. Das Publikum tanzte wie wild und auch Norman wollte zu keinem Ende finden. Da dieser Auftritt aber der letzte des Abends im Uebel&Gefährlich war, durften noch einige mehr Zugaben als geplant gespielt werden. Als dann doch Ende sein musste, ging es wieder zurück zur Reeperbahn. Das Festival wäre schließlich nicht das Gleiche, wenn man die Freitagnacht nicht im Molotow ausklingen lassen würde. Das Delikatess DJ-Team legte in der Bar auf und sparte nicht an Lieblingdsliedern. Dort wurde dann bis spät in die Nacht die letzte Energie aus den Körpern getanzt…
Der letzte Festivaltag, Samstag, stand dann vollkommen im Zeichen von Audiolith. Das Hamburger Label hatte den „Audiolith Affenkampf“ auf die Beine gestellt, der den ganzen Abend lang in der Großen Freiheit 36 stattfinden sollte. Wer sich dazu entschloss, dem Event beizuwohnen, konnte sich also den sonst üblichen Locationwechsel sparen, was für den letzten Abend eine gute Entscheidung war. Captain Capa waren die Ersten auf der Bühne. Nachdem ich zunächst dachte, dass Audiolith sich mit der Größe der Location vielleicht doch überschätzt hätten, wurde ich schnell eines Besseren belehrt. Bereits bei Captain Capa war die Große Freiheit anständig gefüllt. Captain Capa haben vor kurzem vor den Augen der gesamten Musikszene den New Music Award gewonnen. Man merkte ihnen beim Auftritt an, dass die Freude darüber noch längst nicht vergessen ist. Selten haben sie einen so kraftvollen Auftritt hingelegt wie hier. Ashi und Maik lieferten sich ein Lattenmessen in puncto ‚vor Freude strahlen‘ mit ihrem Leucht-Pikachu am Bühnenrand. Sie spielten viele Songs ihres aktuellen Albums „Saved my life“ und machten nochmals klar, weshalb sie den Award verdient haben. Man darf sich sicher sein, dass das noch nicht die Spitze des Eisbergs ist, dem Duo steht garantiert noch viel bevor.
Nach einer kurzen Umbaupause waren dann Supershirt an der Reihe. Gerade ein paar Wochen früher sind sie beim Dockville-Festival aufgetreten, aber Hamburg hatte offensichtlich noch lang nicht genug von ihnen. Supershirt spielten zum großen Teil Songs ihres zu dem Zeitpunkt noch unveröffentlichten neuen Albums „Kunstwerk“. Woher der Name kommt, wurde spätestens dann klar, als das golden reflektierende Vinyl in die Scheinwerfer gestreckt wurde. Ja, wir sind geblendet von der Kunst! Songs wie „Bretter“ oder „90 seconds of fame“ wurden vom Publikum genau so abgefeiert wie die älteren, längst geliebten Hits. Zum Ende des Auftritts kamen dann nochmals die Jungs von Captain Capa mit auf die Bühne, um den gemeinsam Song „Tote Tiere“ zu performen.
Dann war es Zeit für Bratze. Norman Kolodziej hatte zwar gestern erst mit Der Tante Renate einen Auftritt, doch war noch fit wie eh und je. Auch Kevin Hamann zeigte sich gut gelaunt. Inzwischen war die Große Freiheit wirklich enorm gefüllt und der Sauerstoff im Raum wurde durch eine hitzige Suppe ausgetauscht. Kevin hat das wohl bereits geahnt und stolzierte in T-Shirt in Boxershorts über die Bühne. Musikalisch haben die beiden die Delikatessen ihrer zwei Platten zusammengesucht und von der „Filzlaus“ bis hin zum „Pelikan“ war alles dabei, wozu es sich mitsingen und tanzen lässt. Ach ja: Später warf sich Kevin dann noch auf den Boden, kappelte sich mit Labelchef Lars und sang währenddessen tapfer weiter. Der ganz normale Wahnsinn.
Die letzte Band des Abends waren Frittenbude. Einmal noch zusammenraufen und kollektiv durchdrehen! Das Publikum war textsicher und sang jede Zeile lautstark mit. Frittenbude haben sich inzwischen einen solchen Namen gemacht, dass sie auf der Bühne vermutlich machen könnten, was sie wollten und die Leute würden es bejubeln. Also klappte es selbstredend auch an diesem Abend. „Mindestens in 1000 Jahren“, „Bilder mit Katze“ und viele weitere Songs ihrer beiden Alben sorgten für Begeisterung und saugten den Besuchern die letzte Energie aus den müden Beinen. Natürlich durfte auch der Song nicht fehlen, der namensgebend für den Abend war: Der „Affentanz“! Das hier war wahrlich ein Affenkampf, aber einer der freundschaftlichen Sorte. Audiolith – connecting people.
Als man es dann am Sonntag irgendwann schaffte, aus dem Bett zu kommen, war man erledigt, aber glücklich. Das Reeperbahn Festival hat ein weiteres mal den Kiez auf den Kopf gestellt, den schlechten Geschmack verdrängt und ein tolles Wochenende mit wunderbaren Künstlern organisiert. Vor allem für Hamburger fühlt sich dieses Festival wirklich wie Zuhause an. Man lernt auch Neues kennen, schätzt aber vor allem die Momente, in denen man mal wieder merkt, warum man diese Stadt und ihre Musikszene so liebt. Wir freuen uns schon jetzt auf das nächste Jahr, es ist immer wieder eine Freude!
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