Schönheit erstreckt sich immer in dem Wunsch, den selbigen Moment anhalten zu können, die Macht über die Zeit zu besitzen und selber bestimmen zu dürfen, wann und wie lange etwas geschieht. Der beim asphalt & anders Verlag veröffentlichte Debütroman Der Schlaf und das Flüstern von Stefan Petermann beweist, dass solche Wünsche mehr als nur Faszination sein dürfen, sie können sehr real wirken und vielleicht auch sein.
"Im Gras lag ein Körper, zwischen salzweiß blühenden Kamillen. Die Arme geöffnet, die Beine gespreizt, das Gesicht von einem kaum wahrnehmbaren Lächeln gezeichnet, dem Himmel zugewandt. Der Körper unberührt, die Kleidung unversehrt. Keine Knöpfe, die fehlten, kein Hosenbein, das gerissen war. Die Schnürsenkel der roten Stoffturnschuhe doppelt gebunden. Um den Hals ein buntes Tuch geschlungen, das dichte Haar von hölzernen Spangen gehalten."
Welchen Wert besitzt die Zeit, wenn man ihre Endlichkeit hinauszögern kann? Und wenn sie sich hinauszögern lässt, wie nutzt man sie richtig? Pola muss sich beide Fragen stellen, denn sie kann die Zeit anhalten. Das konnte sie schon immer, zu mindestens liegt der Zeitpunkt, an dem sie es herausgefunden hat, schon lange zurück. Eigentlich ist es auch kein Anhalten, sondern viel mehr ein verlangsamen. So langsam, dass es wie Stillstand wirkt. Auch eine passende Umschreibung für das Leben in Lange Sömme, der Ort, an dem Pola seit dem Tod ihrer Eltern gezwungen ist, zu leben. Dort, wo jeden im Sommer der Salbengeruch begleitet, den die blühenden Kamillenfelder versprühen und sich damit wie selbstverständlich dieses Ortes bemächtigt. Hier, mitten zur Blütezeit, beginnt auch das goldene Zeitalter von Janek, der „lebendig gewordenen Imitation eines Jungen, den man auf seine Schultern setzt und durch den Zoo trägt.“ Der Janek, der im Waisenhaus lebt, bis er von dem Flieger Einar und seiner Frau Holly adoptiert und auf ihren Flugplatz nach Lange Sömme geholt wird. Der Ort, an dem Janek von Polas Geheimnis erfährt.
"Die ersten Anzeichen eines Bruches. Wie eine Glasscheibe, durch die, bevor sie zersplittert, Risse laufen. [...] Bevor das Glas bricht, werde Narben sekundenbruchteilelang offenbart und die Welt schaut gespannt hindurch, klopft vorsichtig mit dem Finger dagegen."
Pola ist die Exotin unter den beiden Protagonisten. Sie ist geheimnisvoll, introvertiert, aber dennoch nicht devot. Ihre Fähigkeit, die Zeit anhalten zu können, nutzt sie, um sich einen unbemerkten Vorteil über die Welt zu verschaffen. Janek, der als beliebter Anführer der Klasse versucht, die neu dazu gestoßene Schülerin Pola durch Streiche in ihre Schranken zu weisen, kriegt dies am eigenen Leib zu spüren, in dem sie ihm mit ihren Fähigkeiten einen schleichenden Abstieg vom dominierenden Anführer zum stotternden Außenseiter beschert. Es ist der Wechsel zwischen den Perspektiven der beiden Protagonisten Pola und Janek, der die Ereignisse erzählerisch klar und deutlich schildert, aber dabei noch einen viel genaueren Blick auf die Figuren selbst liefert. Man ist dabei, wenn die Charaktere aufwachsen, ihre Erfahrungen sammeln und sich ihre Wege mehr und mehr kreuzen und fast gar überlagern. Alles aber immer in doppelter Perspektive, die es erlaubt die Zeit aufzuspalten, wenn Janek beispielsweise in einem Sekundenbruchteil etwas erlebt, das Pola vorher in ihrem eigenen Raum-Zeit-Kontinuum über viele Seiten zusammengesetzt hat.
Zeit als ein zentrales Thema des Romans, doch ist die Suche nach sich selbst, der Frage nach dem eigenen Sinn vielleicht wesentlicher zentraler. Vor allem dann, wenn Pola aufbricht, flieht aus Lange Sömme, um sich einen Reim zu machen, wieso gerade sie die Zeit anhalten kann und ob ihre Eltern vielleicht doch noch leben. Und das alles immer mit einem kleinen ironischen Blick auf das Dorfleben, das sich von solchen Fluchten nicht ablenken lässt: „Eine geht, eine kommt.“
"Den Kilometerzähler stellte er auf null. In der Nähe das Rauschen des Flusses. Das Rauschen des Windes. Sein Atmen. Als Janek losfuhr, drehte er sich um. Im Gras lag kein Körper mehr."
Mit Der Schlaf und das Flüstern legt Stefan Petermann einen Debütroman vor, der mehr zu wissen scheint, als nur eine realistisch-fantastische Geschichte erzählen zu können. Zwischen den Seiten bleibt Zeit stehen, funktioniert nicht mehr, wird aufgebrochen und der eigene Blick fokussiert sich auf die Dinge, die sonst so unverborgen scheinen, im Flüstern existieren. Nicht sprachgewaltig und direkt, sondern erzählerisch verborgen und verstrickt wirkt eine Ästhetik, deren Teile sich zum Ende hin erheben und in sich einen eigenen Kosmos erschaffen. Eine Welt, die realistisch erscheint, aber dennoch so fern von allem ist, was man kennt. Eine Welt, in der selbst Liebe nicht zu funktionieren bereit ist. Jedenfalls nicht in der aufdringlichen Form, in der wir sie kennen. Ist Janek in Pola verliebt oder liebt sie ihn? Fragen, die egal sind, weil man sie nicht braucht und am Ende nur eine wichtig scheint: „Weißt du, dass jede Sekunde ein Paralleluniversum stirbt?“
foto: candy welz
„Der Schlaf und das Flüstern“ von Stefan Petermann erschien im September 2009 beim asphalt & anders Verlag.