Die letzte Chance vor dem Sabbat? Mit diesem Slogan locken Tocotronic auf ihre derzeitige Tour, die sie bereits durch ganz Deutschland geführt hat. Jena ist eines der letzten Konzerte, Band wie Publikum sind hochmotiviert das Kassablanca zu erhitzen. Was neben einer Flitzereinlage sonst musikalisch noch erfreute, lest ihr in unserem Bericht.
Eine Vorband gibt es an diesem Abend nicht, ein Trend der sich auf Konzerten bekannter Bands immer mehr durchzusetzen scheint. Heute passt dieses Konzept jedenfalls perfekt: nichts lenkt davon ab, weshalb alle gekommen sind: Tocotronic. Am Kassablanca rauschen die Züge auf Gleis 1 vorbei und werfen Licht an die weißen Vorhänge, als der erste Ton von „Eure Liebe tötet mich“ erklingt, das sich auch live als ein langsam ankündigender Sturm durch den Raum ergießt. Der Sound ist kristallklar und in perfekt ausgesteuerter Lautstärke, das kommt besonders den beiden Gitarren zu Gute.
Dirk von Lowtzow begrüßt das Publikum frenetisch und irgendwie siegesgewiss. Das kommt nicht von ungefährt, schließlich hat die Band das mächtige „Schall und Wahn“ im Rücken, das heute Abend besonders ausgiebig auf die Bühne gebracht wird. „Die Folter endet nie“ und „Das Blut an meinen Händen“ klingen toll, doch ein Rundumblick zeigt, dass viele der neuen Stücke es noch nicht ins kollektive Gedächtnis der Fans geschafft haben. Mitgesungen wird nach wie vor bei den alten Klassikern, an denen aber zum Glück nicht gespart wird.
Nur „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“ will Von Lowtzow nicht zum Besten geben: „Das wäre unglaubwürdig, Leute!“
Als die allgemeine Stimmung zu „Let There Be Rock“ ihren Höhepunkt erreicht hat, passiert ein absolutes Kuriosum. Plötzlich steht ein Fan auf der Bühne, doch von Freude darüber ganz nah bei seinen Helden zu sein, kann bei ihm keine Rede sein, wütend wirkt er, ganz in schwarz ist er gekleidet. Die Band ist verdutzt und bevor irgendjemand etwas tun kann, springt dieser Typ mit voller Kraft in Arne Zanks Drumset. Toms fliegen, Snares kullern, die Musik verstummt. Nachdem der Typ weggeschaft wurde, geht es erst nach 10-minütigen Aufbauarbeiten weiter. Tocotronic nehmen’s mit Humor: „Yes, we can!“
Neue Stücke wie „Im Zweifel für den Zweifel“, „Bitte oszillieren sie“ und großartige Neuklassiker wie „Sag alles ab“ oder vor allem „Mein Ruin“ werden darauf gekonnt mit dem Werk der 90er verbunden. So sorgen „Drüben auf dem Hügel“ oder besonders „Freiburg“, das den Zugabenblock eröffnet, für Begeisterungsstürme. Genau so überschwenglich bedankt sich Von Lowtzow nach jedem einzelnen Song beim Publikum. Sei der Enthusiasmus nun etwas gespielt oder nicht, diese Band macht Gute Laune in den Pausen zum Prinzip. Nur während der Songs herrscht volle Konzentration und Hingabe. Trotzdem, einen „Irgendwie-Außenseiterstatus“ haben sich Tocotronic auch nach fast 20 Jahren Bandhistorie immer noch bewahrt und genau das macht sie einzigartig. In diesem Sinne: „Die Idee ist gut doch die Welt noch nicht bereit“.
Die Fotos stammen vom Konzert in Kassel am 21.10.10. Zur Galerie gelangt ihr hier.
Kleine Anmerkung noch: ‚Das Blut an meinen Händen‘ wurde nicht gespielt, musst du wohl verwechselt haben.