Neben „Digital ist besser“ wurde auch „Nach der verlorenen Zeit“, oftmals liebevoll Mini-Album genannt, auf Tocotronics bandeigenen Label Rock-O-Tronic wiederveröffentlicht. 1995 lagen zwischen Debütalbum und zweiter Platte nur einige Monate, der typisch tocotronische Sound der frühen Tage ist auf diesem Album besonders herauszuhören. Das erste Gitarrensolo in Tocotronics Bandgeschichte findet man in dem Song „Ich mag dich einfach nicht mehr so“, der geneigte Zuhörer weiß, dass das bei Weitem nur der Anfang war. Es ist einfach Rockmusik. Als Extra dieser Reissue findet man neben den 10 Album-Tracks 13 weitere Songs, allesamt Liveaufnahmen aus dem berühmt-berüchtigten Hamburger Club „Heinz Karmers“. Und da stellt ein Zuschauer allzu passend fest: “Halts Maul jetzt und hör endlich zu!“
Für all jene, die auf Konzerten dieser Band mit Inbrunst „Oldschool!“ krakeelen, ist schon das erste Stück des Albums, „Ich muss reden, auch wenn ich schweigen muss“, der Jackpot. Wären die Texte nicht hinreißend intelligent – Wittgenstein lässt grüßen – könnte man die Punkrockschublade öffnen und ein paar Erinnerungen an die Pubertät herausfischen. Abgesehen vom lärmenden „Ich muss reden, auch wenn ich schweigen muss“ und „Ich hab 23 Jahre mit mir verbracht“ finden sich auch die leisen Perlen der Hamburger Popmusik auf diesem Album.
„Die Musik ist schlecht wie immer hier“? Dass wir nicht lachen! Die Klage über provinzielle Zustände lässt aufhorchen und frisst sich durch die Ohren ins Hirn, und wenn zu tiefsten Tönen über die nun vergangene Einsamkeit gesungen wird, ist auch im Herzen noch ein Platz frei für die, zu dem Zeitpunkt noch 3, sympathischen Herren aus dem Norden. Was man hier geboten bekommt, ist also für jede Stimmungslage geeignet, wenn nicht gar geeignet, jede Stimmungslage herbeizuführen. Man freut sich, schwärmt ein wenig und leidet dann doch wieder unter den Gedanken, dass die Band ebendiese lesen kann und Texte darüber schreibt.
Die geballte Kraft bekommt man allerdings erst zu spüren, wenn „Michael Ende, du hast mein Leben zerstört“ endlich an der Reihe ist. Das wütendste Stück des Albums besticht durch puren Hass, verpackt in endlose Sätze, die nur so dahinfließen. Was haben wir davon? Schadenfreude vielleicht? Spaß an der Sprache auf jeden Fall, Spaß am Hass, und endlich sogar einen Schuldigen. Der zeitliche Abstand zwischen Debüt und diesem Album hat gereicht, um sogar den Parolen, die gar keine sein wollten, den schönsten Feinschliff zu verpassen.
Die Live-Aufnahmen, Ergänzung dessen, was uns jetzt schon glücklich macht, sind aus den Jahren 1994 und 1995. Unter anderem Songs wie „Ich glaube ich habe meine Unschuld verloren“ oder eben das Prachtstück des Albums über die Zerstörung unserer Leben durch einen bekannten Kinderbuchautoren. Von diesen Liedern gibt es kaum Aufnahmen, „Michael Ende“ spielen Tocotronic seit einem Jahrzehnt nicht mehr live. Außerdem werden hier zum ersten Mal die Aufnahmen der schnellen Version von „Drüben auf dem Hügel“ und dem Udo Lindenberg-Cover „Alkoholmädchen“, ein Lied fern von jedweder lyrischen Eleganz der Band, doch gerade deswegen nicht ohne eigenen Charme, an die Öffentlichkeit gebracht, die es auf Platte bisher nie zu hören gab.
Keine Frage, das ist der Klang meiner Generatiohohon.
Tracklist:
1. Ich muß reden, auch wenn ich schweigen muß 2:06
2. Du bist ganz schön bedient 3:13
3. Gott sei Dank haben wir beide uns gehabt 2:42
4. Ich hab 23 Jahre mit mir verbracht 2:00
5. Ich werde nie mehr alleine sein 0:52
6. Michael Ende, du hast mein Leben zerstört 3:11
7. Ich mag dich einfach nicht mehr so 4:45
8. Ich bin neu in der Hamburger Schule 2:59
9. Es ist einfach Rockmusik 2:25
10. Hauptsache ist 1:59
Bonus:
11. Ich muß reden, auch wenn ich schweigen muß (Live, 1995) 2:54
12. Ich hab 23 Jahre mit mir verbracht (Live, 1995) 2:08
13. Jungs, hier kommt der Masterplan (Live,1995) 2:32
14. Michael Ende, du hast mein Leben zerstört (Live, 1995) 3:52
15. Digital ist besser (Live, 1995) 2:15
16. Drei Schritte vom Abgrund entfernt (Live, 1995) 1:53
17. Ich glaube ich habe meine Unschuld verloren (Live, 1995) 1:47
18. Letztes Jahr im Sommer (Live, 1995) 3:17
19. Samstag ist Selbstmord (Live, 1994) 4:16
20. Hamburg rockt (Live, 1994) 2:59
21. Drüben auf dem Hügel (schnelle Version) (Live, 1994) 3:05
22. Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein (Live, 1994) 5:07
23. Alkoholmädchen (Live, 1994) 7:19
VÖ: Seit dem 12.10.2007 im Handel
ääähjhh. wer ist denn bei „michael ende, du hast mein leben zerstört“ der schuldige?