Die Artikulation des Leidens
Versuch einer Musikkritik mit essayistischem Einschlag
206. Der Name dieser Musikgruppe erscheint dem geneigten Hörer / der geneigten Hörerin als merkwürdig rationalistische Klammer für einen klaffenden Abgrund, dem musikalisch und textlich archaisch Ausdruck verliehen wird. 206 als Gesamtzahl der Knochen im menschlichen Organismus und als Gesamtgewicht der Bandmitglieder. Die Erhebung zum Bandnamen: eine Geste, die der destruktiven Energie eine fassbare Klarheit entgegensetzt. Doch bleibt diese Klarheit nichts sagend und die Wirksamkeit im Sinne der Öffentlichkeitsarbeit verschwindend gering. Hier scheint der Verwertbarmachung – zumindest implizit – eine Absage erteilt zu werden.
Doch zunächst für einen Moment zurück auf den Boden der Tatsachen: Ich halte eine selbst gebrannte CD mit sechs Demoaufnahmen in den Händen. Diese sechs Songs vermitteln einen ersten Eindruck dessen, was die drei junge Männer aus Halle apokalyptisch anmutend einen „Soundtrack zum Untergang“ nennen. „Baader„, „Borniert„, „Kratzer to the top„, „Leidenschaft„, „Leidshow„, „Hallo Hölle“ heißen die Liedfetzen, deren Titelgebung ein wenig mehr verrät, was zu erwarten ist als es der Bandname tat.
Letztlich zeigt sich aber: Der Untergang, der hier gemeint ist, ist kein apokalyptischer (Welt)Untergang – es ist ein privater. Im dissoziativen Schreibstil der Hamburger Schule werden so in „Leidenschaft“ Bilder alltägliche Einzelerfahrungen aneinandergereiht und stilisiert: „Jemand kommt zu dir und schmeißt dich weg / Jemand kommt zu dir und bricht dein Herz / Jemand kommt und tritt dein Fahrrad ganz kaputt“
In diesem Lied exponiert sich erstmals die Außergewöhnlichkeit der Stimme, die sich bei den ersten Titeln im Rohen und Lauten versteckte und beschützt wurde. Doch gerade bei diesen ersten klaren Tönen wird deutlich: Diese Stimme schürft etwas aus, sie impliziert, wenn sie im Schreien nahezu versagt, ein Scheitern, das sich in der destruktiven Kraft der Musik und den Texten widerspiegelt. Hier blitzt etwas von jener Rauhheit auf, die Roland Barthes als „Materialität des Körpers, der seine Muttersprache spricht“ (vgl. Roland Barthes: „Der entgegenkommende und der stumfe Sinn„) umreißt; allerdings nicht im Sinne eines „Spiels der Vokale, der die gesamte Signifikanz zu kommt“, wie bei Barthes weiter, sondern vielmehr im reduzierten Sinne einer Rauhheit selbst. Man erfährt eine Energie und – gerade im Versagen – eine zerstörerische Kraft wie sie vielleicht 1980 bei Blixa Bargeld zuletzt erfahrbar wurde. „Die Rauhheit ist der Körper in der singenden Stimme, in der schreibenden Hand, im ausführenden Körperteil.“ (ebd.)
Bei Konzerten lässt man die Gitarren gerne ausheulen und reizt ein Fiepen und Wiederhallen exzessiv aus, wie es seiner Zeit beim Stück „Exercise One“ von Joy Division im Vergleich dazu nur zaghaft angedeutet wurde. Diese Extremform macht schließlich, in letzter Konsequenz, die Musik fühlbar. Nicht ganz ohne Grund fühlte ich mich beim Konzert an das Konzept „Hören mit Schmerzen“ in diesen Momtenten erinnert. Der überdrehte Verstärker als letzte Methode, im Zuhörer / in der Zuhörerin ein Gefühl, ein Gespür für die Problematik zu wecken – ihn gar zu verstören?
Was nun unterscheidet 206 von diesen vielerorts aufkeimenden Bands, denen man jugendliche Rauhheit, punkiges Anti-Heldentum oder Rebellion attestiert? In gewissem Sinne bleibt es eine geläufige Rauhheit: Dort nämlich, wo die Textpassagen zu sehr deutlich machen, dass hier ein Leiden ausgedrückt wird, ein Leiden ausgedrückt werden will: „Das ist eine Leidshow.“ Hier ist ein leidendes Individuum, hier wird Schmerz a r t i k u l i e r t. Die Sprache bleibt hinter ihrem Potential, ihrer metaphorischen, dissoziativen Kraft zurück. Zwischen kryptischen Bildern wird einfache Aussagelogik eingeschoben: „Immer diese Leidenschaft, die immer wieder Leiden schaft“
Es wird letztendlich nicht ganz klar, ob ein beobachteter Zustand oder eine Attitüde artikuliert wird, wenn es in „Hallo Hölle“ heißt: „Unsere schwarz angemalte Welt gefällt uns gut“. Handelt es sich hier um die moderne Variante von Schopenhauers Jammertal? Wird der Hörer im Leiden belassen, Leiden schlichtweg stilisiert? Dies wäre ein Rückschritt in doppelten Sinne.
Dennoch zeigt sich bei diesen sechs Demoaufnahmen – die mit Sicherheit gar nicht darauf aus sind, sich einem theoretischen Diskurs zu stellen oder durch diesen verwertbar gemacht zu werden – ein wach rüttelndes Potential. Allein schon aus diesem Grund, sei empfohlen, sich diese Band einmal genauer anzuschauen.
Alle sechs Lieder kann man sich – wenn man nicht in der Lage ist, die Demo-CD zu erwerben – im Internet kostenfrei anhören.