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Antonin Artaud – Van Gogh, Selbstmörder durch die Gesellschaft

Antonin Artaud - Van Gogh, Selbstmörder durch die GesellschaftDer Verlag Matthes & Seitz Berlin, der sich seit seiner Gründung intensiv mit dem Werk Antonin Artauds auseinandersetzt, brachte im Februar diesen Jahres eine Neuauflage des Werks „Van Gogh, Selbstmörder durch die Gesellschaft“ heraus. Artaud nähert sich in einem rauschhaften Essay dem als Leidensgenossen, Seelenverwandten und genialen Künstler begriffenen Vincent van Gogh. Zugleich formuliert er ein radikale und angewiderte Kampfschrift gegen eine Gesellschaft, deren Umformungsgewalt als essentiell verstanden wird.

Ein Jahr vor seinem Tod, im Frühjahr 1947, beginnt Artaud seine Ausarbeitungen zu van Gogh. Der rote Faden des im Gesamten diskontinuierlichen, von (sprachlichen) Zerwürfnissen gekennzeichneten Essays ist die Darstellung van Goghs als Maler, der sich zum einen streng auf das Gebiet der Malerei und die ihm dabei zur Verfügung stehenden Mittel beschränkte und zum anderen dennoch – oder gerade dadurch – in der Lage war, etwas zu schaffen, das weit darüber hinausgeht. Artaud beschreibt dieses Malen als ein visionäres Ergründen der Wirklichkeit. Demgegenüber sieht er beim Maler Gauguin beispielsweise das Prinzip einer Mystifizierung der Wirklichkeit, die van Goghs Idee der Malerei somit diametral gegenüber steht.

[V]an Gogh war sehr wohl der aufrichtigste Maler der Maler, der einzige, der die Malerei als striktes Mittel seines Werkes und strikten Rahmen seiner Mittel nicht überschreiten wollte.
Und andererseits der einzige, absolut der einzige, der gänzlich über die Malerei hinausging, den leblosen Prozess, die reine Natur darzustellen, in dieser ausschließlichen Darstellung der Natur eine rotierende Kraft hervorströmen zu lassen, ein Element, das direkt aus dem Herzen gerissen wurde.

Selbstbildnis mit Strohhut, 1887Van Gogh: ein Maler, der nur Maler ist und doch viel mehr. Artauds Essay ist jedoch nicht dem Herzen eines Kunstkritikers entsprungen. Auch wenn eine sehr plastische und intensive Verdeutlichung der freigesetzten Kraft durch die Bilder van Goghs stattfindet, ist es nicht sein Anliegen, die Werke zu beschreiben. Dazu sei niemand imstande. Der Essay ist vielmehr gerahmt und durchdrungen von einer Anklageschrift gegen die Praxis der Medizin, im besonderen der gegenwärtigen Psychatrie. In van Gogh wird ein unverstandener Bruder im Geiste gesehen, dessen Genie eine Mehrheitsgesellschaft erstickt hat. Artaud begreift van Gogh, Baudellaire, Nietzsche, E.A. Poe – und damit indirekt auch immer sich selbst – als einen Kreis der affirmierten Aussetzigen.

Artaud kannte die Psychatrie nur zu gut: Neun Jahre musste er Elektroschocks über sich ergehen lassen, Behandlungen mit Wismut, Queckselber oder Lithium gegen seine diagnostizierte Schizophrenie ertragen. Eben alle Experimente einer noch jungen und unverantwortlichen psychatrischen Praxis. Artaud war geprägt von Verfolgungswahn, apokalyptischen Visionen und den Wirkungen von Heroin und Opium, die damals noch als Medizin verstanden wurden. Es ist aber fragwürdig, ob man dem Text gerecht wird, wenn man ihn als „psychotische[n] Kurztripp“ oder „pubertierende[n] Aufschrei“ beschreibt wie Guido Rohm in seiner aktuellen Rezension im Magazin „Glanz und Elend„. Natürlich ist diese Schrift, in der van Gogh teilweise auch als Vehikel einer Kritik affiziert wird, eine zerstückelte Kampfschrift in drastischer Sprache. Doch das mindert nicht den Gegenstand ihrer Problematisierung. Bernd Mattheus erwähnt in seinem Nachwort richtigerweise die moderne Facette dieser Problematik: Auch heute sind die Psychatrie, im weiteren die Psychologie oder die Medizin, nicht unbefleckt. Artauds energisch artikulierte Hetze ist kein Zeichen der Psychose oder puren Affekts, sie verdeutlicht viel mehr, wie dringlich und lebensbestimmend dieser Topos für ihn war. Er hat sich zeitlebens als unfrei begriffen.

Krähen über dein Kornfeld, Juli 1890

Dennoch sind die hetzerischen Passagen gegen die Psychatrie zum Großteil nur in der Einleitung des fünfzigseitigen Essays formuliert. Der Hauptteil widmet sich eben doch den Bildern van Goghs. Dass van Gogh als Spiegel, Metapher und Vehikel Artauds dient – dies ist ein Eindruck, der durch den biografischen Kontext entsteht. Unweigerlich trägt auch die Tatsache dazu bei, dass die Betrachtung van Goghs und seiner Werke vom Tod ausgehend betrieben wird: Zentral ist so für Artaud van Goghs letztes „Krähen-Bild“, das sich wie ein weiterer roter Faden durch den Essay zieht. Über den gesellschaftskritischen Diskurs hinaus, der diesem Werk inne wohnt, sind es aber eben auch jene Passsagen, die das Lesen des Essays durchaus zu einem Vergnügen machen:

Das Bild ist prächtig, großartig und ruhig.
Würdevolle Begleitung zum Tod desjenigen, der währrend seines Lebens so viele trunkene Sonnen über so viele vogelfreie Korngarben wirbeln ließ und der, verzweifelt, eine Gewehrkugel im Bauch, nicht anders konnte, als eine Landschaft mit Blut und Wein zu überfluten, die Erde mit einer letzten Emulsion zu durchnässen, fröhlich und melancholisch zugleich, mit einem Geschmack von saurem Wein und verdorbenen Essig.

Der Essay „Van Gogh, Selbstmörder durch die Gesellschaft“ erschien in deutscher Übersetzung erstmals 1977 im damaligen Münchner Matthes & Seitz Verlag.
Die vorliegende Ausgabe erschien im Februar 2009 im Verlag Matthes & Seitz Berlin.

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