1995 erschienen unter dem Titel „Commissioned Music“ (deutsch: „Auftragsmusik“) Blixa Bargelds Kompositionen zu Bernard-Marie Koltès Stück „Dumpfe Stimmen“ und Uli M. Schueppels Film „Jahre der Kälte„. Nun, dreizehn Jahre später, wurde das erste Soloalbum der „intellektuellen Instanz“ der Einstürzenden Neubauten wiederveröffentlicht. Hinzugefügt wurden vier Lieder, darunter Musikstücke von zwei Arbeiten, die bislang noch keinen Eingang in diese Zusammenstellung gefunden haben.
1994 inszenierte Regisseur und Lightdesigner Gert Hof an der Berliner Akademie der Künste Bernand-Marie Koltès dramatischen Text „Des voix sourdes“ (zu deutsch: „Dumpfe Stimmen„). Zuvor hatte Hof schon fünf weitere Dramen des französischen Autors in Berlin inszeniert. Mit der Komposition der Bühnenmusik wurde seiner Zeit Blixa Bargeld beauftragt, nebenbei stand in der Regie Hofs Bargeld selbst in dieser Inszenierung auch erstmals als Akteur auf einer Theaterbühne. Für das Bühnebild wurde kein geringerer als der österreichische Künstler Gottfried Helnwein engagiert.
Elf Stücke dieser Auftragsmusik sind auf „Commissioned Music“ zu hören. (Neu beim Re-Release „All alone am I“ und „Magic Moment„). Zusammen mit Pianisten Roland Wolf schuf Bargeld Kompositionen, die auch ohne den Kontext der Theater-Szene funktionieren, denen eine Bildlichkeit immanent ist, die auch abgetrennt vom einst intendierten Kontext funktionieren. Dies mag wohl daran liegen, dass sie schon im Entstehungsmoment nicht als einfache Untermalung der Hof’schen Inszenierung fungieren sollten, sondern bemüht waren, neue Wege des Zugangs zu eröffnen – und zugleich zu zerstreuen.
So durchzieht schon die „Ouvertüre“ – trotz aller Bedrohlichkeit und intervall-artigen, dumpfen Schlägen – doch eine warme Grundfläche, die Koltès abgründigen und tristen Charaktere, neben aller Übereinstimmung, gekonnt kontrastiert. Hier bereits wird deutlich: Die Instrumentalwerke Bargelds sind – auch wenn offene Aggression, anarchische Gesten ausbleiben – im Unterschied zu den Solowerken der Kollegen Rudolf Moser und Jochen Arbeit, nicht im Bereich der Ambient-Musik zuverorten. Diese Musiken knistern: hier implodieren Welten, hier werden Gefühle entgrenzt. In der Nähe des Amüsements oder einer einladenden Lounge sind diese durchkomponierten Stücke wohl kaum vorzustellen. Dass dürfte spätestens beim zweiten stakkatoartigen Titel „Lange Szene“ überdeutlicht werden. Einzig einigermaßen massenkompatibel dürfte Bargelds Interpretation von „Somewhere over the rainbow“ bleiben. Zu reduzierter und verrauschter Klangkulisse wispert ein sich zurücknehmeneder Blixa Bargeld die Zeilen dieses 30er-Jahre Hits und gibt ihm ein wenig von der Atmosphäre des „Zauberers von Oz“ zurück. Zuvor hörte man ihn in „Blackout Music“ fast eine ganze Minute lange in seiner ihm bekannten Art infernalisch Schreien – besser gesagt: eine Gewirr ein- und desselben Schrei-Samples.
Die beiden neuen Stücke „All alone am I“ und „Magic Moment“ ergänzen das Bild der Theatermusik. Wenn auch ersteres – eine verzerrte Radioaufnahme Brenda Lees, die gleichnamiges Lied im Original sang – weniger Eigenwert besitzt, so bereichert „Magic Moment“ doch und setzt mit Stimmenfetzen und der Hinarbeit auf ein letztes Ausklingen einen gelungeneren Schlusspunkt als „Somewhere Over The Rainbow“ beim Original-Release.
Ebenfalls 1994 drehte Uli M. Schueppel den essayistischen Dokumentarfilm „Jahre der Kälte / Frozen Stories“ über die Gefangenschaft seines Vaters in den Gulags der Sowjets. (Zuletzt feierte Schueppels „Der Tag“ mit Musik von FM Einheit beim internationalen DOK Film-Festival in Leipzig seine Erstaufführung.)
Drei Stücke aus diesem Film wurden auf „Commissioned Music“ veröffentlicht. Sie basieren auf einem Rhythmus von Franz Schubert, der beständig mitschwingt und durch Flirren und Flächen emporgeschwungen wird, schließlich vom einer schlichten Lautmalerei Bargelds ergänzt werden. Eingeschoben sind die „Klopfzeichen„. „Workuta“ variiert geringfügig die Tonfolge aus „Schacht“ und führt sie weiter, wo sie zuvor abgebrochen wurde. Hier hingegen kann man sich – auch wenn der Dokumentarfilm nicht bekannt ist – anhand der Inhaltsangabe eher vorstellen, dass Film/Bilder schlichtweg musikalisch untermalt wurden.
Zwei weitere neue Titel der Re-Release-Version sind die Stücke „Wie das Baden im Nichts ist“ und „Wundbrand„, beide Auftragsarbeiten für gleichnamige Videos des Berliner Künstlers Kain Karawahn. Hierbei wurde vornehmlich mit Stimmen-Samples gearbeitet, wie man es vielleicht bereits aus „Rede/Speech“ kennt. Jedoch laufen diese Samples in „Wie das Baden im Nichts ist“ nicht auf die Herstellung eines Rhythmus‘ hinaus. Hier wird mit Stimme als Rohmaterial ein Knistern und Rauschen erschaffen, dass die Materialität der Stimme hörbar macht: Atmen, Stöhnen, Wispern. Ein Ansetzen der Stimme, ein angedeutetes Röcheln, ein abgeschnittenes Ausatmen. Ein Säuseln. Ein Gewirr wird gesampelt und zusammengeflochten, erhebt sich schließlich – und plötzlich ertönt da wieder dieses inbrünstig unmenschliche Schreien. Dann wieder Stille. In „Wundbrand“ wieder unerträgliches Schreien. Dieses Stück bleibt im wahrsten Sinne des Wortes unhörbar.
„Commissioned Music“ (Re-Release) erschien am 26. September 2008.