Wenn man einer Formation musikalische Schizophrenie unterstellen könnte, dann wohl Broken Social Scene. Bei der lose schwankenden Personalpolitik des Kollektivs und den damit aufeinander krachenden Einflüssen und Ideen von diesmal 31 Musikern ist Chaos vorprogrammiert. Doch die kanadische Supergruppe beweist mit „Forgiveness Rock Record“ einmal mehr, wie man chaotische Kreativität in vielschichtige und trotzdem eingängige Alben umwandelt.
Die lange Entstehungszeit des nunmehr vierten Albums lässt sich simpel mit der nahezu unüberschaubaren Verstrickung der einzelnen Mitglieder in Soloaktivitäten oder andere Projekte und nicht zuletzt auch den individuellen Familienplanungen begründen. Die Broken Social Scene, die zwischenzeitlich zum Synonym für die kanadischen Independentmusikszene heranreifte und unzählige Größen ebendieser hervorbrachte, war zuletzt in die sprichwörtlichen tausend Teile zersprungen. Umso schöner, dass die Splitter sich wieder zur Gruppentherapie zusammengefunden haben.
Wie versöhnlich eine Platte sein kann, die mit der Zeile „we got a minefield of crippled affection“ beginnt und gleich mal die ganze Welt verteufelt, bedarf zunächst einiger Phantasie. Doch die wirkungsmächtige Weltverdrossenheits-Hymne und auch das immer wiederkehrende Motiv des Bedauerns (in „All to all“ oder „Sentimental X‘s“) kann nicht über den positiven Grundtenor des Albums hinwegtäuschen. Broken Social Scene lassen los und blicken nach vorn.
Rund um den Kern aus Kevin Drew, Brendan Canning, Andrew Whiteman, Justin Pieroff, Charles Spearin und Sam Goldberg haben sich alte Bekannte wie Leslie Feist (wenn auch leider nur im Hintergrund), Jason Collett, Lisa Lobsinger, Jimmy Shaw und Emily Haines von Metric, Amy Millan und Evan Cranley von Stars, Sam Prekop von Sea and Cake, Jason Tait von The Weakerthans und noch einige mehr zusammengetan.
Den Fugenkitt zwischen den einzelnen Bruchstücken lieferte Tortoise-Kopf John McEntire, in dessen Studio große Teile von „Forgiveness Rock Record“ eingespielt und produziert wurden. Es grenzt fast schon an Ironie, dass ausgerechnet der Postrock-Veteran Broken Social Scene nach dem überwiegend instrumentalen selbstbetitelten Vorgänger wieder zum Singen bringt. Allein das pompöse Feuerwerk „Meet me in the Basement“ wurde nicht mit Gesang garniert, hat aber auch ohne genug zu erzählen. Auch das ehemalige Death From Above 1979-Mitglied Sebastian Grainger hatte bei den Aufnahmen seine Finger im Spiel.
Bei Broken Social Scene verschmilzen mehr Elemente als in jedem Chemielabor, ohne dass man am Ende von dem gefürchteten Gemeinplatz der homogenen Masse sprechen kann. Retroorgeln, verzerrten Basslinien, Glockenspiele, Streicher, Bläser und Synthiepopelemente finden genauso Berücksichtigung wie klassische Stromgitarren. Eine Vielschichtigkeit, die sich bei jedem Hören weiter entfaltet und erschließt und die Alben der Kanadier so hörenswert macht. Immer und immer wieder, über Jahre. Falls mal irgendjemand über den längt vergessenen Begriff ‚Crossover‘ stolpert: Broken Social Scene praktizieren die Definition.
Sie vermischen die extremen Gegensätzlichkeiten von Effektpalette und Musikbaukastenspektrum, ohne dass es zu ausgereizt oder zu aufgesetzt klingt. Jeden Abstecher in zu arty experimentelle Gefilde bügeln die Scenester selbst durch hymnische Eingängigkeit aus. Auf das lautmalerische Schichtenpuzzle einer Jagd aus wabernden Soundeffekten, Streichern und dramatisch eingesetztem Gesang namens „Chase Scene“, dem nach einem unbekümmerten, durch die Klanglandschaft eines Videospiels rumpelnden Wilco-Stück klingenden „Texico Bitches“ und dem druckvollen „Forced to Love“ folgen die harmonischen Chöre von „All to All“. Danach klatschen die energischeren und ruhigeren Songs im Wechsel ab, offenbaren aber so viele Details, das man sie sofort nochmal hören möchte. Und ehe man sich versieht, schließt nach der klassischen Rockhymne „Water in Hell“ die fast schon zu intime Liebeserklärung Kevin Drews an seine Hand die Platte, auf der so rein gar nichts gebrochen wird.
Als Nachtisch und Zugabe für Vorbesteller und ausgewählte Bezugsstellen servieren die niemals zu vielen Köche der Broken Social Scene noch zehn instrumentale Zwischen-Takes der Aufnahmen auf der EP „Lo-Fi For The Dividing Nights“.
Beide erschienen am 30. April 2010 bei City Slang/Universal.