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Casper – XOXO

Es ist bereits viel geschrieben worden über das neue Album „XOXO“ von Casper. Zuerst war es noch eine überschwängliche Euphorie, der die Artikel bestimmte. Das Jahr hätte am 08. Juli enden können, die Charts waren geschrieben, Platz 1 ging an Casper. Danach folgte allerdings die Resignation, die Angst, zu früh zu viele Schritte nach vorne gemacht zu haben. Es wurde zurückgerudert und erste kritische Stimmen wurden laut. Schlussendlich könnte man sich jetzt hier einordnen und die schon bekannten Zeilen einfach noch einmal gekonnt umschreiben, doch das würde sich nicht lohnen. Stattdessen nur ein anderer Versuch, um etwas zum Diskurs beizutragen: XOXO – eine Kurzgeschichte

Kapitulation - die absolute Niederlage. Die endgültige Unterwerfung. Die totale Hingabe. Dadurch werden wir so stark lieben können und so stark geliebt werden, dass wir wie Imitationen des jeweils anderen werden. Alles was einmal unser war, wird von uns abfallen. Aber auch alle Sorgen, alle Qualen. Wir werden uns gegen uns selbst verschwören, wie alle Geister dies tun. Viel mehr noch: Wir werden Krieg gegen uns selbst führen! Wenn wir am Boden sind, werden wir einfach liegen bleiben und das wird unser größter Trost sein. Wir werden die Augen schließen und ein Feuerwerk in der Nacht sehen. Alles in uns, um uns und um uns herum wird explodieren. Alle Türen werden durch Zauberhand geöffnet werden und kein Wille wird triumphieren. Wir werden irr sein, wir werden zornig sein, und wir werden den Leugnern in ihre Gesichter spucken. Wir werden im Besitz der magischen Formel sein: FUCK IT ALL.
Kapitulation ist alles. Und wir alle müssen kapitulieren.

(aus Tocotronic: Kapitulation – Manifest.)

Der erste Satz ist der wichtigste, denkst du dir, während du durch die Ruinen dieser Stadt ziehst, obwohl es vielmehr dein eigenes Leben ist, das in Trümmern liegt, wie auch die Versprechen, die du gemacht hast, als du mit 16 Jahren das erste Mal „Der Steppenwolf“ gelesen hast. Niemals wer zu werden, der jemand ist, der man nie man sein will. Den Geschmack von Freiheit auf der Zunge, während du die Realität inhaliert hast – aufgesogen in deiner schwarzen Lunge. Der erste Satz muss der wichtigste sein. Irgendetwas mit „Der Druck steigt„. In drei Wörtern ausgedrückt, was ganze Bücher nicht besser beschreiben könnten. Vielleicht ist es auch der letzte Satz gewesen, der wichtig ist. Du kannst dich nicht mehr genau an das erinnern, was Michael dir damals erzählt hat. Vor so vielen Jahren, als ihr betrunken über die verbrannte weiße Erde gezogen seid, um die Rebellion zu suchen, die eurer Generation verwehrt war. Kein Krieg, keine Anrennen gegen Polizeigewalt, keine RAF-Manifeste in den Jacken-Innentaschen. Stattdessen nur Aggression, Gegenkultur und die Gewissheit, dass man später nie so werden wird. Nie würdet ihr die Stimme der Jugend verdrängen. Die letzten Idole wurden eh bereits zu Grabe getragen. Ihr müsstest nur überleben in diesen Straßen. Euer eigenes kleines Alaska, das ihr mit Sorgfalt und Übermut zu einer Stadt habt erbauen lassen, jeden Stein einzeln auf den anderen gesetzt, Straßen geteert, Züge eurer eigenen Gesellschaft erkennen lassen. Das XOXO auf den Unterarm tätowiert, als ein Zeichen, das mehr als nur Rebellion bedeutete, eure Kleidung in schwarz getaucht, sodass sie euch niemals finden sollten und eure Sprache kryptisch codiert, um niemals verstanden werden zu können.

„no one remembers your name when you're strange / when you're strange / when you’re strange“

Die Welt ist steinig geworden. Das einstige kuntergrau dunkelbunt ist zur Monotonie verkommen. Eine Stadt, die anfangs noch wie Las Vegas gestrahlt hat, während ihr beiden durch ihre Straßen gezogen seid, ist jetzt ein einziges Schattenmeer. Du kannst dich noch genau erinnern, als sie das erste Mal zu euch gestoßen ist. Mit schulterlangen schwarzen Haaren und schwarz-braunen Augen stand sie auf einmal vor euch und wollte mitmachen. Ihr habt gelacht, um den Schein zu bewahren, doch sie blieb standhaft und ging nicht mehr weg. Sie hat dich von Anfang an fasziniert, wie ihre Tattoos auf Rücken und Armen in ihren Körper übergingen und ein übergreifendes Kunstwerk erzeugten, mit welcher Energie sie ebenso wie ihr versuchte, sich vor der Zukunft zu verstecken und mit ihrer Dynamik, die einen süchtig machte. Dass ihr zusammengehört, war euch vom ersten Moment an klar. Wie viele Nächte habt ihr damals auf den Dächern verbracht, euch auf Decken ausgebreitet und dem Sternenhimmel gezeigt, was ihr unter Liebe versteht. Nicht diese verkrusteten Strukturen von Ehe und Beziehung, sondern Funken erzeugen mit einem einzigen Kuss, das Feuer der einzigwahren, eurer eigenen Revolution, bis hin zum perfekten Fehler zur falschen Zeit. Dass sie irgendwann jedoch gehen wollte, hat sich angedeutet; sie hatte neue Ziele ins Auge gefasst, ihre schwarzen Haare blond gefärbt und die alten Züge ihres Charakters abgelegt. Nun war sie es, die über euch lachen musste, während sie etwas von „Beruf“ und „Erwachsen werden“ stammelte und schlussendlich mit denen davongezogen ist, die dir jetzt gegenüberstehen.

„yet there’s still this appeal, that we’ve kept through our lives. love will tear us apart again.“

Der erste Schritt zum Verfall, den ihr in euren Reihen beobachten konntet. Eine Generation, eine ganz Gesellschaft, die sich in Blindheit wähnte und wegsah, während die ersten Pfeiler bröckelten. Du warst es, der damals den ersten Stein geschmissen hat. Warst der erste, der vor lauter Tränengas nicht mehr atmen konnte und hast dich gerade noch in einen Hauseingang geschleppt. Weißt nicht mehr, wer dir damals mit einer Plastikflasche voller Wasser die Augen ausspülten. Damals hast du noch nicht an Begriffe wie „Aufklärung“ oder „Initiation“ gedacht, um die Situation im Nachhinein besser einordnen zu können. Heute ist es zur Selbstverständlichkeit verkommen. Der allmähliche Verfall, der die ersten Häuser zu Ruinen verkommen ließ, während Backsteine und Staub den Boden völlig bedeckten. Das Haus deiner Eltern, das nie wirklich zu Hause war. Der Garten mit dem angrenzenden Stück Wald, in dem dein Vater dir zeigte, wie das Leben sein kann. Dass du kämpfen musst, für das, was du haben willst. Dass dir niemals jemand etwas schenken wird. Eine Lektion, die dich dein Leben bisher begleitet hat und du auch jetzt merkst, wie viel Kraft dir diese Sätze weiterhin geben. Er war zwar niemals wirklich da, hast eigentlich nie gewusst, was Vater überhaupt als Wort bedeutet, aber dennoch hat er dich geprägt, hat dich zu dem gemacht, was du jetzt bist.

„and if my thought-dreams could be seen / they’d probably put my head in a guillotine / but it’s alright, ma, it’s life, and life only“

Nun stehst du einsam am Rand und siehst, wie sie sich langsam um dich herum versammeln, dich einkesseln, dir keine Möglichkeit zu Flucht bieten. Dass dieser Moment irgendwann einmal kommen wird, war dir klar, doch wo damals noch Suizid ein Versuch zur endgültigen Freiheit war, sind jetzt verschlossene Türen. Die Zweifel haben sich in dir verfestigt. Die Zweifel, an den Dingen, an die du früher einmal geglaubt. Die Zweifel, die letztendlich deine Stadt hier zum Einsturz gebracht haben und dir nun gegenüberstehen. Du spürst jeden einzelnen der kleinen Steine unter deinen Schuhen, hörst wie sie aneinander reiben, während sich deine Füße tiefer in ihnen vergraben, um noch ein wenig Halt zu erlangen. Er hat sich angekündigt und jetzt bist du froh, dass er hier ist. Der Moment, in dem du ein letztes Mal gegen die Übernahme anspringst. Ein einziges Mal noch, die letzten Energien sammeln, immer mit der Resignation im Hinterkopf, dass deine Jugend längst vorbei ist und sich die Stadt, die du dir damals aufgebaut hast, nicht mehr besteht und nur noch in Trümmern liegt. Aus einem Individuum ist ein Teil der Masse geworden. Deine eigene Welt wird nicht mehr gebraucht, weil sie dir eh diktiert wird; du schlussendlich mit dem Gesicht im Staub liegst, dein Mund sich mit dem eisigen Geschmack füllt, während du deinen Anzug zuknöpfst und in die S-Bahn steigst. Der Schlaf der lebenden Toten. Du bist angekommen und vergisst, dass der letzte Satz der wichtigste sein muss, weil der erste schon längst keine Gültigkeit mehr besitzt. „ lass die spiele beginnen.


„XOXO“ erschien am 08. Juli 2011 bei Four Music.

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