Lasst uns über das Wetter reden. Nicht? Dann lasst uns über die Gesellschaft reden, über den Rhythmus, das Zusammenspiel, die Melodie jedes einzelnen von uns. Esoterik einmal nach antikem Sinn und nicht umgangssprachlich gedacht: Wissen, das nur von einem begrenzten Personenkreis geteilt wird. In diesem Fall sind es jährlich knapp 7000 Menschen, die sich einlassen auf einen Zugang zur Musik, der auch vom Verfasser dieses Artikels mit jedem Jahr erneut mythologisiert wird. Haldern Pop Festival – ein Prinzip.
Die Dynaxität der Gesellschaft wächst immer weiter, die Finanzwelt ist heute schon so komplex, dass selbst Insider sie kaum noch überblicken. Ich bin überzeugt davon, dass die Strategie der Zukunft „Entnetzung und Entschleunigung“ lauten wird. Wir müssen gegensteuern, sonst erleben wir, dass wir an unserem eigenen Tempo scheitern.
(Prof. Dr. Dr. Michael Kastner)
Entschleunigung als Schlüsselwort des Zugangs. In den letzten Monaten habe ich mich mit der Gegenrichtung beschäftigt: Vernetzungsstrategien, Kommunikations- und Systemtheorie. Niklas Luhmann, Michel Serres, Friedrich Kittler, Bruno Latour… die ganze Konegge und zusätzlich die entsprechende Literatur. Goetz. Immer wieder Rainald Goetz. „Heute morgen, um 4 Uhr 11, als ich von den Wiesen zurückkam, wo ich den Tau aufgelesen habe“ und dabei vor allem Rave, Dekonspiratione und Abfall für alle. Danach ist man gefangen in einem Netz der Bezüge, der Repräsentation gedanklicher Bewegung – ich zumindest. Doch spätestens nachdem ich versuchte, die Umstände der NSA-Überwachung und der Snowden-Enthüllungen mithilfe Michel Serres‘ Der Parasit zu lesen, begann die verzweifelte Suche nach einer Lösung dieser Misere, die mich schlussendlich immer wieder zum Niederrhein trieb.
‚Entschleunigung‘, so hatte ich bereits in einigen der letzten Vorberichte genannt, wie das Phänomen und die Strategie ‚Haldern Pop Festival‘ am geeignetsten beschrieben werden kann: die komplette Hingebung zur Musik abseits digitaler Kommunikation, schnelllebiger und kurzer Assoziationsketten, dabei keine zur Verfügung stehende Skip-Funktion, sondern das Ausleben jeglicher Emotion. Ein Festival und damit auch ein Dorf, das sich auf solche analogen und fast schon verstaubten Werte beruft, ist genau wie das diesjährige Motto es treffend bezeichnet, merkwürdig anders. Wobei. Nein, Lüge! Spätestens seit das Gesicht der überflüssigsten „Poetry Slammerin“ Julia Engelmann in jeglichen sozialen Netzwerken zu sehen war und die traditionelle Moral „Carpe Diem“ in den digitalen Alltag gewickelt wurde, scheint sich jeder auf die Prinzip der Entschleunigung zu berufen. Einmal merkwürdig anders sein, die große Indiependent-Lüge mit den Gründen, die Timo Feldhaus in der leider letzten Ausgabe der großartigen DE:BUG in Bezug auf Mode nennt: „Der sozialen Paradoxie (Individualität durch Nachahmung, ich will anders, nämlich genau so wie der Andere da vorne sein) und der Ordnungsparadoxie (Stabilität durch Veränderung, kurzer Rock folgt auf langer Rock folgt auf kurzer Rock).“
Wieso hat das Haldern Pop Festival es trotzdem verdient, sich mit seiner Andersartigkeit brüsten zu dürfen? Weil die Macher des Festivals es geschafft haben, einen Ort dieser oben genannten Werte zu schaffen, der über die Festivalzeit hinaus und dabei auch das ganze Jahr über besteht. Das Haldern Pop Label, die Haldern Pop Bar, die sich über das Jahr verteilende Festival-Trailer, jeder einzelne Teil des Konglomerats und Marke „Haldern Pop“ hat das Potential zur Entfremdung des digitalen Alltäglichen und kann das ganze Jahr darauf zugreifen. Ja, das Fusion-Festival funktioniert nach einem ähnlichen Prinzip, aber um es abschließend überspitzt zu sagen: Hippieesk kann mit Omas Erbsensuppe einfach nicht mithalten. Haldern Pop 2014 – Es wird wieder Zeit, sich Zeit zu nehmen.
(Anm.: Diese Zeilen schrieb ich übrigens im Zug zur Düsseldorfer Büchermeile, dessen Zielort mir erst beim Ausstieg auffiel und alles in den rechten Sinn rückte: Emmerich. Zwei Stationen nach dem niederrheinischen Dorf Haldern.)
31. Haldern Pop Festival 2014: Merkwürdig anders
07.-09. August 2014
(Stand 08.05.2014)
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Noch mehr Informationen zum Festival gibt es hier: Haldern Pop.