Pete Doherty tritt jetzt plötzlich ganz erwachsen als Peter Doherty in Erscheinung und veröffentlicht unter seinem richtigen Namen sein erstes Soloalbum. „Grace/Wastelands“ heißt das Debüt und war laut offiziellen Angaben für den Ausfall diverser Konzerte verantwortlich. Mal keine Drogen, mal kein Exzess? Ganz seriöse Studioarbeit? Nun ja, wir denken uns unseren Teil dazu, warum alle Deutschlandkonzerte von Dezember auf Mai verschoben und schließlich doch abgesagt wurden.
In der bildungsbürgerlichen Wochenzeitung DIE ZEIT schreibt Arno Frank: „Peter Doherty lässt auf seinem ersten Soloalbum alle Exzesse hinter sich und zeigt endlich, wie gut er sein kann.“ Ach, wirklich? In dieser Referenz stecken mindestens zwei Fehlwahrnehmungen.
Zum ersten: Wer erst durch das „klare und leise“ Soloalbum das musikalische Talent Pete Dohertys erkennt und sein vorheriges Schaffen, namentlich bei The Libertines und seiner aktuellen Band Babyshambles, als puren Exzess stilisiert, das kein Talent aufscheinen ließ, hat wohl etwas nicht verstanden. „Es scheint als habe der Dionysos Doherty den Apoll in sich entdeckt“, mutmaßt Arno Frank. Eine schöne Bilderbuchgeschichte: Der destruktive, im Rausch versunkene Rockmusiker, der früher nur Drogen konsumieren konnte und nicht wirklich zu überzeugen wusste, nimmt ein Akustikalbum auf, bei dem er ganz besonnen zu sich selbst findet und alles Rauschhafte verbannt.
Zum zweiten: Das Dionysische zieht sich ebenso wie auch früher durch die Lieder auf diesem Album. Es sind süßlich-schmerzhafte Liebeslieder, Geschichten von fabulösen Parallelwelten, nostalgische Anti-Hymnen. Sie sind Ergebnisse einer Leidenschaft – eines Leidens – und mitnichten verkopfte Weisheitslieder. In ihnen lässt sich ebenso Exzess und Chaos wieder finden. Dieses „Dionysische“ beruht ja keineswegs nur auf Verstärkern, Verzerrern und einem Schlagzeug.
Diese Dinge bleiben auf „Grace/Wastelands„, wohl wahr, aus. An ihre Stelle treten verzückte Pianolinien, ab und an eine Mundharmonika, schwere Streicherflächen, auch ein Akkordeon. Sie alle positionieren sich um die dominierende Akustikgitarre Dohertys. Trotz einer gewissen Melancholie wird die musikalische Stimmung der Soloplatte von einer quasi befreienden Lockerheit getragen. Diese Kombination ist es, die begeistert, nicht etwa die Tatsache, dass Doherty ein durchdacht erscheinendes, strukturiertes Album aufgenommen hat. Natürlich kann er das, das konnte er auch schon früher.
„Last of the English Roses“ erinnert mit seiner Percussion-Begleitung und mehreren eingespielten Gitarren wohl neben dem Wüsten-Song „Palace of Bones“ noch em ehesten an einen Bandsong – und wurde deshalb wohl bewusst als erste Single-Auskopplung gewählt. Andere Lieder jedoch begeistern da noch viel mehr: „I am the rain“ macht wohl exemplarisch am deutlichsten, wie sich diese befreiende Lockerheit anhört. Oder die Schmerzeshymne „Broken Love Song„, dessen Refrain sich auch wieder als ein solcher Befreiungsschlag herausstellt: „They are the loniest“ heißt es dort. Mir schießt sofort ein Bild in den Kopf, wie auf einem rauschhaften Konzert alle Verlierer und Außenseiter in gemeinsamer Verbrüderung und Verschwesterung elektrisiert mitschreien. Es ist zum Weinen – es ist wunderschön.
Das Phänomen bei dieser Platte aber wird wohl wie sooft sein: Das Feuillton preist mit Doherty die angebliche Besinnung eines Rockmusikers und lobt harmonische Töne. „Ein bisschen Exzess – aber bitte nicht zuviel.“ Das ist berechenbar! Außerhalb des bildungsbürgerlichen Lobeshymnen wird dieses Album bis auf den Kreis eingefleischter Doherty-Fans wohl weniger Anklang finden als vorherige „Rock-Alben“. „Grace/Wastelands“ ist in der Konsequenz im wahrsten Sinne eine Solo-Platte – das trifft auch auf die Hörerinnen und Hörer sowie das Hören selbst zu. Hier lässt sich mehr entdecken als oberflächliche Wandlungsanalysen eines Musikers.
„Grace/Wastelands“ erschien am 13. März 2009.
sehr tolles review. nahezu perfekt.
Wirklich saubere Rezension, Marcus! Top.
das Album ist aber auch nicht von schlechten eltern ;)