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Willy Vlautin – Northline

Was wäre ein Film ohne einen passenden Soundtrack? Richtig, er wäre höchstens halb so schön. Seltsam eigentlich, dass bisher noch kaum jemand auf die Idee gekommen ist, einen Roman mit Musik zu untermalen. Willy Vlautin, Schriftsteller und Frontmann der US-Band Richmond Fontaine, wagt bei seinem zweiten Buch „Northline„, dem eine CD mit melancholischem Folk, der die Story treffend unterstreicht, genau dieses Experiment. Dabei ist der Soundtrack eher ein zufälliges Nebenprodukt des Schreibprozesses, wie Willy Vlautin in den Liner-Notes dazu anmerkt:

„Jedes Mal, wenn ich Allison Johnson in Schwierigkeiten brachte oder sie hilflos zurückließ, fühlte ich mich schrecklich schuldig, hörte auf zu schreiben und griff mir eine Gitarre. Daraus sind diese Songs entstanden.“

Gelegenheit genug, an der Musik zu feilen, dürfte der 42jährige durchaus gehabt haben, denn immerhin mutet er seiner Protagonistin Einiges zu. Die junge Allison, die als Kellnerin ein karges Gehalt verdient, lebt in der Glitzermetropole Las Vegas – und zwar in dem Teil der Stadt, den die vergnügungssüchtigen Touristen niemals zu Gesicht bekommen. Die tristen Vororte, in denen Aussichtslosigkeit, Armut, Alkoholismus und Gewalt den Alltag bestimmen, sind die Heimat von Allison und ihrer Familie. Der Vater ist längst davongelaufen, die jüngere Schwester bereitet gerade ihre „Flucht“ nach Mexiko vor und die Mutter hat außer Bier und Filmen mit Paul Newman eigentlich nichts mehr, wofür sich das Leben lohnt. Kein Wunder, dass auch an Allison der Einfluss ihrer angeknacksten Familie nicht spurlos vorbeigegangen ist: Sie selbst ist ein psychisches Wrack und dem Alkohol keineswegs abgeneigt. In einer dieser Nächte, in denen sie wieder einmal zu viel erwischt hat und deswegen ihren Job verliert, gerät ihr Leben vollkommen aus der Bahn, als ihr Freund, ein rassistischer Schlägertyp, ihren hilflosen Zustand ausnutzt und sie auf der Toilette ihres ehemaligen Arbeitsplatzes vergewaltigt. Drei Monate später erfährt Allison von ihrer Schwangerschaft und beschließt, dass sie raus muss aus dem ganzen Elend von Las Vegas. Sie zieht nach Reno, gibt ihr Kind nach der Geburt zur Adoption frei, nimmt Jobs als Kellnerin und als Aushilfe in einem Call-Center an und schmiedet Pläne für die Zukunft. Allerdings ist es gar nicht so einfach, ein neues Leben zu beginnen. Die Vergangenheit holt Allison immer wieder ein und wären da nicht ihre stark übergewichtige Kollegin Penny Pearson, der seltsame Dan Mahoney, ein Stammgast in dem Restaurant, in dem sie die Nachtschicht schiebt, und Paul Newman, der ihr in ihren Tagträumen erscheint und Mut zuspricht, wäre sie schon längst verzweifelt…

Wie schon in seinem Romandebüt „Motel Life„, ein Road-Movie um zwei ungleiche Brüder auf der Flucht vor dem Gesetz, beleuchtet Willy Vlautin auch im großartigen „Northline“ wieder die Schattenseite des amerikanischen Traums. In knappen Sätzen, mit lakonischen Dialogen und einem feinen Gespür für Humor erzählt der Mann aus Reno von den Menschen, die ganz unten angekommen sind in der Gesellschaft und gerne in die Schublade „White Trash“ gesteckt werden. Nichts an dieser Geschichte macht eigentlich wirklich Hoffnung, aber das Ende des Romans lässt dann doch die Möglichkeit zu, dass es vielleicht irgendwann auch einmal aufwärts geht im Leben von Allison Johnson und den anderen liebenswerten Außenseitern in „Northline„. Sie hätten es wirklich verdient.

Northline“ von Willy Vlautin ist im Berlin Verlag erschienen und kostet inklusive Soundtrack-CD 19,90 Euro.

Text: Christoph Walter

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