À l’ombre des majorités silencieuses ou la fin du social
Es scheint treffend zu sein, wenn wir das Aufkommen der Masse seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert als eines der wichtigsten Phänomene der Moderne bezeichnen. Die Masse erwies sich zu jener Zeit ebenso als ein Auslöser von Ängsten und ließ ein Gefühl des Unbehagens aufkommen – beides vornehmlich Reaktionen der bürgerlichen Schichten. Ebenso wurde in ihr aber auch das Potential zur Umsetzung politischer Utopien gesehen, namentlich bei Vertreter_innen der modernen Linken.
Dass die Masse zum entscheidenden Paradigma der Moderne wurde, belegen auch die Schriften der frühen Sozialforschung und Psychoanalyse: So legte beispielsweise Gustave Le Bon 1885 seine „Psycholgie der Massen“ vor, die große Wirkung entfaltete und auch bis heute noch (kontrovers) diskutiert wird. Drei Jahrzehnte darauf folgte Sigmund Freuds „Massenpsychologie und Ich-Analyse„, in dem Freud von Le Bon ausgehend analysiert, wie über Identifizierungsmechanismen Massen zustande kommen und wie sie funktionieren – unter anderem geleitet von unterbewussten (libidinösen) Energien. Als ein reflektiertes und für die Ambivalenzen des Phänomens äußerst sensibles Werk nach der Moderne kann „Masse und Macht“ angesehen werden, dass 1960 von Elias Canetti vorgelegt worden ist.
Jean Baudrillard reiht sich nur bedingt in die Reihe dieser theoretischen Überlegungen zur Masse ein. Der französische Philosoph und Soziologe gilt zumeist als eine der ersten Quellen für Themen der zeitgenössischen Philosophie der Medien wie beispielsweise Digitalisierung und Virtualisierung. Seine soziologischen Erkenntnisse sind dabei, nicht nur aus wissenschaftlicher Perspektive, umstritten ob ihrer Opakheit. Der Soziologe Klaus Kraemer bezeichnet ihn so als „Randgänger des Denkens“, dessen Dekonstruktionen „zuweilen spekulativ und rätselhaft“ anmuten. (1) Baudrillards Schrift „Im Schatten der schweigenden Mehrheit oder Das Ende des Sozialen“ erfuhr nun erfreulicherweise in den vergangenen Wochen bei Matthes & Seitz Berlin eine Neuauflage, sodass die Abhandlung erstmals in Buchform in deutscher Sprache vorliegt. Bereits 1978 erschien dieser Essay Baudrillards. In ihm verbindet der französische Autor hoch spannende Gedanken zu einer aktualisierten Theorie der Masse. Dabei verknüpft er diese Überlegungen mit einer Fundamentalkritik des Begriffs und der Kategorie des Sozialen im zweiten Teil der Abhandlung.
Anders als bei Gustave Le Bon ist die Masse für Baudrillard kein bloßer Spielball der Mächte oder eines „Führers“, mit dem sich die Menschen durch die Massierung hindurch identifizieren. Eine These der „Verdummung der Masse“ finden wir hier nicht bestätigt. Für Baudrillard ist die Masse schlichtweg ein „schwarzes Loch“ (2), das jegliche Energie absorbiert. Gleichgültigkeit und Trägheit sind dabei weder durch die Medien, Modelle einer „Gesellschaft des Spektakels“ (Debord) oder Zurichtung durch eine „Kulturindustrie“ (Horkheimer / Adorno) hervorgerufen, sondern das Ureigenste der Masse. Diese ist schlichtweg „kein guter Leiter“ (3), weder des Politischen noch der Informationen, die die Medien unaufhörlich erzeugen. (Sinn ensteht dabei sogar laut Baudrillard als reines Zufallsprodukt.) Daraus folgt die düstere Erkenntnis, dass eine „Anrufung“ der Masse, jeglicher Versuch der Politisierung oder eine politische Hoffung, die sich an die Masse knüpft, scheitern muss. Die Masse als „die schweigende Mehrheit“ ist des Politischen unfähig. Während dessen versuchen die Medien, die Meinung der Masse zu repräsentierten, diese kursiert schließlich in ihren Informationserzeugnissen vielmehr als eine Simulation, die Baudrillard in seinem ihm eigenen Science-Fiction-Stil beschreibt:
„Bombardiert mit Stimuli, Botschaften und Tests, sind die Massen nur noch eine undurchsichtige, blinde Schicht, ähnlich dem Gasnebel um die Sterne, den man nur durch die Analyse des Lichtspektrums kennt – eines Spektrums von Strahlen, das dem der Statistiken und Umfragen entspricht -, aber das ist es ja gerade: Es kann sich nicht mehr um Ausdruck oder Repräsentation handeln, sondern nur noch um die Simulation eines auf immer unausdrücklichen und ausgedrückten Sozialen.“ (4)
Mit dem terroristische Akt ist diese Masse auf erschreckende Art und Weise verküpft: Beide eint die Nicht-Repräsentierbarkeit als schmutziges, subversives Potential. Der Terrorismus wird Baudrillard zum „hyperrealen Akt“, der die Implosion des Sozialen – der Masse ähnelnd – voran treibt.
„Für den blinden, nicht repräsentativen, sinnentleerten Charakter des Terrorakts gibt es kein anderes Äquivalent als das blinde, sinnentleerte, nicht repräsentierbare Verhalten der Massen. Ihre Gemeinsamkeit besteht darin, dass sie heute die radikalste, die schärfste Form der Verneinung jedes Repräsentativsystems darstellen.“ (5)
Das Soziale ist für Baudrillard ein Phantasma der gesamten Sozialwissenschaften, die ihre akademischen Aktivitäten auf jenen diffusen Begriff hin ausrichten. In der alltäglichen Welt ist „das Soziale“ auf andere Weise zum individuellen Konsumgut geworden, nachdem es in der Folge von Umwälzungsprozessen seit der Französischen Revolution als Repräsentationsspiel an die Stelle des Politischen getreten ist. In drei divergierenden Hypothesen zur Existenz und Aktualität des Sozialen scheint Baudrillard darauf zu beharren, dass die Masse eben nichts Soziales oder dergleichen erzeugt, respektive, es zugleich von jener zerstört wird, und in letzter Konsequenz das Soziale einzig und allein seine Rolle in der Verwaltung und Organisation der Konsumtion der Reste des realen Lebens erfüllt.
„Wenn aber das Soziale von denen, die es produzieren (den Medien, der Information), gleichzeitig zerstört wird, wenn es von denen, die es selbst produziert (den Massen), wieder resorbiert wird, folgt daraus, dass seine Definition gleich Null ist und der ganze Begriff des Sozialen, der allen Diskursen als universelles Alibi dient, gar nichts mehr analysiert, nichts mehr bezeichnet. Nicht nur, dass er überflüssig und nutzlos wäre – sondern überall, wo er auftaucht, verschleiert er etwas anderes: die Herausforderung, den Tod, die Verführung, das Ritual, die Wiederholung – er verschleiert, dass er nur Abstraktion und Residuum ist, oder sogar ein bloßer Effekt von Sozialem, eine Simulation und Augentäuschung.“ (6)
Trotz aller apokalyptischen Töne und aller nihilistischen Tendenzen, für die Baudrillards Schriften bekannt sind und die man aus der Perspektive des nicht-akademischen Lesenden erst einmal mag oder nicht mag, ist diese frühe Abhandlung aus den 1970er Jahren unheimlich aktuell. Sie geht die / den Lesende(n) beinahe körperlich an, indem sie zuächst einmal behauptet, dass die Grundpfeiler ihrer / seiner gesellschaftlichen Konstitution Ergebnisse einer unaufhaltsamen Simulation und Imaginationsleistung sind. Ferner kritisiert Baudrillard die Soziologie, wie Stephan Günzel im Nachwort herausstellt, als Ökonomie und enttarnt die Masse als ihr „Mana“. Letztlich wäre es nicht schwer, aber doch kurzsichtig, der Schrift einzig und allein einen Weltuntergangston zu attestieren. In ihrem düsteren Bild der Masse findet sich gleichzeitig ein Potential – nicht nur weil Baudrillard, wie Günzel feststellt, mit seiner Absage an jegliche Mobilmachung als „Anti-Jünger“ auftritt, sondern weil er den Finger im Schreibprozess mit Treffsicherheit in die Wunde legt und die Problemstellen der gegenwärtigen Welt benennt: Das Spannungsfeld zwischen Politischem und Widerstand gegen das Politische als „hyperreales Schauspiel“ abgestorbener Repräsentationssysteme. Diese Problemfeldern und Fragen müssen wir uns schlichtweg bewusst machen und reflektieren, um uns uns einer scheinbar unlösbaren Grundspannung zu stellen – für das Gelingen ein künftigen Zusammenlebens.
Erschienen im März 2010 im Verlag Matthes & Seitz Berlin
(1) Vgl. Klaus Kraemer: Schwerelosigkeit der Zeichen? In: Ralf Bohn, Dieter Fuder (Hrsg.): Baudrillard. Simulation und Verführung, S. 47
(2) Vgl. Jean Baudrillard: Im Schatten der schweigenden Mehrheit oder das Ende des Sozialen, S.9
(3) Vgl. ebd., S.7
(4) Vgl. ebd., S.27-28
(5) Vgl. ebd., S.60
(6) Vgl. ebd., S.70