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кожа – Lebensborn

d0bad0bed0b6d0b0-lebensbornSo euphemistisch und zynisch der Begriff „Lebensborn“ den nationalsozialistischen Verein zur Steigerung der Anzahl als „arisch“ geltender Kinder schmückte, so präzise betitelt der hinter dem Pseudonym кожа stehende Produzent und Künstler Mirco Dalos damit metaphorisch einen Songzirkel, der sich nicht davor scheut, die Unbequemlichkeiten des vergangenen Jahrhunderts und Geschwüre der gegenwärtigen Gesellschaft in klingende Kunst zu fassen.

Am Anfang steht Theodor W. Adorno, der 1945 sagte, „nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch.“

Doch die Kunst durchbrach natürlich diese Lähmung der Grausamkeit und Undarstellbarkeit. Immer wieder wurden die Verbrechen des Nationalsozialismus in den verschiedenen Kunstformen thematisiert – von verarbeitet im endgültigen Sinne wird sich hier wohl niemals sprechen lassen; in der populären Kultur wird das immernoch heikle und natürlich wenig erbauliche Thema aber jenseits der Persiflierung Hitlers weitgehend verschwiegen. Doch Schluss mit den Nazis. Die auf Lebensborn thematisierte Symbolik von Gewalt, Macht, Kontrolle, System und Konformismus soll sich in erster Linie übertragen auf die heutige Welt verstehen.

„Meridian“, der erste von sieben sehr unterschiedlichen Titeln auf „Lebensborn“, beginnt mit dem Ausschnitt eines Vortrags Adornos über „die gegenwärtige Lähmung der musikalischen Kräfte […] nach der europäischen Katastrophe“. Mit dezenter spannungserzeugender Musik unterlegt, doziert dieser über die vollführten Verbrechen hinter der die Stille der scheinbar perfekten verwalteten Welt übertönenden installierten Geräuschkulisse. Harter Tobak, dessen Aktualität sich erst bei mehrmaligem Hören voll entfaltet. Als Hauptteil des Stücks folgt nun die eindringliche, rhythmisch vorgelesene und treibend untermalte Geschichte eines Jungen am „dunkelste Tag hinter eisernen Vorhängen“, der an häuslicher Gewalt und gesellschaftlichem Druck zerbricht.

Allein Länge (knapp elf Minuten) und Darstellungsformen stellen sich hier der konventionellen Popmusik entgegen und bieten einen bedrückenden Einstieg, der den Hintergrund des Projekts freilegt, die Hörer ernst zu nehmen, indem man ihnen auch mal Unbequemes zumutet. „Lebensborn“ regt dazu an, den Kopf zu mehr zu benutzen als nur Musik hindurchfließen zu lassen. Dieses Album zur reinen Berieselung zu hören, ist zwar stellenweise durch die interessante Instrumentierung, abwechslungsreiche Stimmen und Einsatz verschiedenster Klangelemente auch möglich, würde dem Anspruch des Werks aber bei weitem nicht gerecht werden. Trotzdem sollte man sich vom Grundthema nicht zurück schrecken lassen und hat keine sperrigen Belehrungen zu erwarten.

Nicht in allen Stücken steht das gesprochene Wort im Vordergrund. Das dritte Stück „Fearsome Freezone“ verwebt Zeugenaussagen über Auschwitz, u.a. vom renomierten Historiker Raul Hilberg, und Soldatenlieder mit brachialer, elektronischer Musik, die marschierend eine beklemmende Atmosphäre erzeugt. „Zero“, „Sound Fingers“, „Fleshmarket II“, „Your Televangelist“ gesungen von Anja Kollhoff über Verdummung und Abhängigkeit und das sehr ausdrucksstark – an ein düsteres Musical erinnernd – vorgetragene abschließende Titelstück „Lebensborn“ greifen mit Längen von 4:46 bis 10:59 Minuten auf das Song-Format im Sinne durchgehender musialischer Untermalung mit melodiösem Gesang zurück. Die Musik vereint elektrische Gitarren mit Elektronik, ohne dass es zu krachig wird und lässt sich ob ihrer Vielfältigkeit dankbarerweise gar nicht erst in Schubladen stecken.

Als Musiker, Sänger und Sprecher steht кожа [russisch: Haut] alias Dalos „musizierende Biomasse“ zur Seite, die er zuvor bereits produziert hat und die nun mit ihm zusammen ernste Unterhaltungsmusik mit Anspruch kreieren. Ob es sich bei „Lebensborn“ um das selbst formulierte „möglicherweise erste seriösen Werk des neuen Jahrhunderts“ handelt, sei jedem selbst zu urteilen, doch könnte wohl kaum ein Attribut besser zutreffen, als das sonst so hohlphrasig verteilte „künstlerisch wertvoll“. Lebensborn zerkratz die Oberfläche und gibt Einblicke in die Gegenwart, denen man sich nicht verwehren sollte.

Veröffentlicht wird Lebensborn am 25. September 2009 bei Data File Music Ltd.

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