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Rocken am Brocken | 30.+31.07.2010 | Elend/Harz

Reges musikalisches Treiben vor imposanter Kulisse – das „Rocken am Brocken“ bereichert seit 2007 alljährlich mit besucherfreundlicher Organisation und ansprechendem Programm die deutsche Festival-Szene, ohne dabei Gefahr zu laufen, seine symphatisch intime Atmosphäre einbüssen zu können. Die diesjährige, vierte Auflage schien jedoch zunächst unter keinem allzu guten Stern zu stehen. So sagten zunächst Biffy Clyro ihr Kommen ab, was die Organisatoren dazu zwang, die vakante Stelle der Hauptband nachbesetzen zu müssen. Zu allem Überfluss entschloss sich zu dem Miss Li, nicht in den malerischen Anhöhen des Harzes spielen zu wollen. All dies tat der Stimmung jedoch keinen Abbruch.

Kurzerhand machten besagte Organisatoren aus der frappierenden Not eine effektive Tugend und zogen mit Bonaparte und Friska Viljor gleich zwei dermaßen hochkarätige Nachverpflichtungen an Land, dass gar der Umstand überdachtet werden musste, die genannten Absagen, könnten das Programm indirekt aufgewertet haben. Letztlich spricht jedoch eindeutig für sich, dass definitiv vielbeschäftigte Bands , wie eben Bonaparte und Friska Viljor, kurzfristig bereit sind, in die Bresche zu springen.

Nach dem regen theoretischen Vorspiel, folgt am 30. Juli endlich die Praxis: Eine Anreise, wie sie wohl landschaftlich kaum malerischer seien könnte. Durch ein Ensemble aus weiten Wiesen und hoch aufgeschossenen, dicht gestaffelten Tannen schlängelt sich unsere, durchweg von Serpentinen durchzogene Anfahrtsroute. Gemächlich geht es dahin. Mehrere Dörfchen, allesamt mit historischer, fachwerklicher Architektur durchzogen, durchfahren wir und passieren schließlich auch Elend, vor dessen Toren das „Rocken am Brocken“ seinen Austragungsort gefunden hat. Ein Zirkuszelt rückt in unseren Fokus, dann ein Zelt- und auch ein Parkplatz. Wir sind angekommen. Es erwarten uns jedoch keine hektischen Einweiser, die mit rustikalem Ton die Geschicke auf den Parkplätzen zu ordnen versuchen, vielmehr fragt uns ein in Zivil gekleideter junger Mann, in wohlerzogenem Konjunktiv, ob wir eventuell umparken könnten, da sie versuchen wollten eine loistische Scheise frei zuhalten. Wer so nett bittet, darf natürlich nicht enttäsucht werden.

Der anschließende Weg zum Zeltplatz erweist sich als gleichermaßen simpler und unbeschwerlicher Gang über die Straße. Die Anordnungen der domizile unterliegen hierbei ebenfalls (fast) keinerlei Konvention. Ein System, das funktioniert. Erneut wenige Schritte entfernt erstreckt sich mit den Bühnenaufbauten das Herzstück des Festivalareals. Einige gastronomische Institutionen haben ihre Stände aufgebaut und versorgen den Festivalbesucher mit der ein oder anderen Leckerei, während in einem großräumigen Zelt allerlei Fan-Artikel rund um das Festival erworben werden können.

Musikalisch eröffnen zwei Bands auf dem Dach des Buses eines nemenhaften Getränkeherstellers: Leavin‘ Soho und The Swindle. Auf der Zeltbühne bringen Divorce The Sky ihren Hardcore zu Gehör und auf der Hauptbühne vermögen es The Picturebooks ein erstes, kräftiges Ausrufezeichen zu setzen. Das Trio aus Gütersloh wird am heutigen Tag durch den sich im Hintergrund haltenden Claus Grabke, seines Zeichens Vater von Gitarrist und Sänger Fynn, Produzent und Musiker in Personalunion, ergänzt. Die Formation aus den Niederrungen Nordrhein-Westfalens passt ganz hervorragend ins Klischee: Schwarze, knallenge Röhrenjeans, Lederjacken, lange Haare, abgewetzte Stiefel. Bassist Tim Bohlmann treibt diesen Stereotypus gar auf die Spitze und hat zusätzlich mit Kajal gearbeitet, während Schlagzeuger Philipp Mirtschnik mit zottelligem Bart und wohlgemerkt vergleichsweise farbenfroh gekleidet auf seinen Einsatz wartet. Die letzen Züge der Zigarette, ein kurzes „Let’s go!“ und das Festival versinkt für die kommenden 30 Minuten in einem Sumpf aus Blues, Noise und Rock ’n‘ Roll, der kaum authentischer dargeboten werden könnte. Mit einer Selbstgefälligkeit verzichten die Jungspunde auf ihren bis dato erfolgreichsten Song „You cannot make it right“ und würdigen das Publikum, wenn überhaupt, mit sperrlichen Blicken, von Ansagen ganz zu schweigen. Percussinist Philipp kämpft mit seinem Schlagzeug, Sänger Fynn nuschelt Unverständliches ins Mikrophon und Bassist Tim gefällt sich in arroganter Pose. Dabei gestatten die Musiker dem Publikum keinesfalls Luft zu holen, sonder dreschen ihre Songs geradewegs ungefiltert in das noch mäßig besetzte Auditorium. Diese Band macht keine Gefangenen. Strukturen werden verquickt, Choräle werden gegrölt, „On the go“ wird intoniert und beendet den Auftritt abrupt. Luft holen! Keine Frage, diese Band klingt anders, diese Band klingt besonders und wenn es ihnen gelingen sollte ihre Fähigkeiten und Energie zu konservieren, was bei deratigem Selbstbewusstsein durchaus möglich sein dürfte, werden The Picturebooks demnächst nicht mehr im Nachmittagsprogramm verheizt werden.

Die nachfolgenden Mutabor finden eine schon eher tanzwillige Masse vor und nutzen diesen Umstand konsequent. Sänger Axl Makana erinnert äußerlich mit überdimensioniertem Kinnbart an das tapfere Schneiderlei, vom Gestus eher an Rumpelstielzchen. Rastlos bahnt sich der Sänger seinen Weg durch das Programm, springt Trampolin, wirft Konfetti in die Menge und erfreut seine Zuhörer mit einer Erfrichung mittels Wasserpistole. Die musikalische Darbietung erweist sich dabei als druckvoll und facettenreich, nicht zuletzt durch Violine und Flöte, die textliche Komponente jedoch eher als zweifelhaft. Schüttelreime wie „Masturbation in der Sonne/ Was für eine Wonne“ zeugen nicht gerade von poetischer Qualität, verfehlen aber ihre Wirkung beim Publikum nicht- zum Glück aller, jedoch nicht im wörtlichen Sinn. Eine spezielle Darbietung in speziellem Ambiente.

Im Zelt haben Jerx derweil einen weitaus schwierigeren Stand. Nur wenige Besucher haben den Weg zu den Österreichern gefunden, die tanzbaren Indie mit Hardcore-Anleihen versehen. Der gute Willen kann der Band indes nicht abgesprochen werden.

Während es langsam Abend wird, vollzieht Gisbert zu Knyphausen seinen Sound-Check auf der Hauptbühne und erntet bereits im Zuge dessen ersten Beifall. Offiziell beginnt zu Knyphausen mit Gespenster von seinem aktuellen Tonträger „Hurra!Hurra!so nicht.“, der allgemein das Gerüst des Auftritts darstellt. „Wir haben noch etwas Melancholie für euch bevor es mit dem großen Tanz weitergeht“, kündigt der Liedermacher an, wobei nicht genau geklärt scheint, inwiefern der Künstler Melancholie und Tanz zu unterscheiden vermag, da der Musiker samt Band durchaus zur Bewegung animiert. Par exellance wird dieses durch die geradezu psychedelisch Ausufernde Zugabe „Neues Jahr“ belegt. Zu Knyphausen wirkt zurückhaltend, spricht bedächtig und drängt sich keinesfalls künstlich in den Vordergrund, so dass er während Instrumental-Sequenzen entspannt über die Bühne flaniert, als sich in wilden Gesten zu produzieren. Dem entsprechend ist er kein Allein-Unterhalter wie zuvor Makana, sonder verlegt seine Konzentration gänzlich auf die Musik und schließt die Augen, während er teils behutsam seine Worte vorträgt. Um ihn herum eine Ensemble, das den Sänger reibungslos unterstützt und ihm den Rücken im Zweifelsfall frei hält. Ein bewegender Auftritt.

Der von zu Knyphausen angekündigte Tanz folgt tatsächlich prompt, als The Busters die Bühne betreten und keinen Zweifel daran lassen, warum sie den Weg nach Elend auf sich genommen haben. Ron Marsmann dirigiert als adrett gekleideter Zeremonienmeister das dankbare Publikum, in dem mittlerweile die ersten Menschen auf Händen getragen werden- Crowdsurfer, Neudeutsch. Die Heidelberger Vorstädter erhellen den mittlerweile stockfinsteren Nachthimmel mit Bläsersatz und Off-Beat. „Wish You Were Here“, im Original von Pink Floyd, wird in locker leichten Ska mit einer Prise Reggea gewandet.

Locker leicht? Damit können Trip Fontaine wohl eher wenig bis gar nichts verbinden. Zu konzeptionell, zu brachial erklingt ihre Musik im äußerst passabel gefüllten Zelt. Nebelschwaden steigen auf und zeugen von unbändiger Spannung, die sich gerade auf und vor der Bühne entläd. Einzelne Bandmitglieder erachten ihren Standort dabei anscheinend als nicht allzu wichtig und spielen einige Passagen schlicht neben der Bühne. Wörter sind ebenfalls einerlei und werden daher äußerst sparsam eingeworfen. Peut à peut wandern jedoch einige Besucher ab, was allerdings weniger mit der Qualität der Formation zusammen hengt, als das in wenigen Minuten die Schweden von Friska Viljor ihr Konzert beginnen.

Ein Intro erklingt, Jubel brandet auf und die Massen sorgen dafür, dass die Besucher in der ersten Reihe nicht mehr ganz so entspannt dem Auftritt der Skandinavier entgegen sehen können. Sänger Joakim Sveningsson, ausnahmsweise einmal ohne Hut, strahlt über das ganze Gesicht, während Compagnon Daniel Johansson, mit Hut, eher etwas reservierter zeigt und sich anscheinend in maskuliner Pose gefällt. „I gave my life“ zum Auftakt, „On and on“ als dritter Song fast unmittelbar im Anschluss. Bereits früh wird ersichtlich, dass Friska Viljor mittlerweile aus einem immensen Repertoire an Ohrwürmern schöpfen können. Sveningsson begrüßt das stimmlich brilliante Publikum dem entsprechend überschwänglich:“Rocken am Brocken- schön euch wieder zu sehen, wir könnten eure Hausband sein!“ Der Bärtige Sänger fuchtelt wild mit den Armen und hat gar etwas prophetenhaftes, als er in grünes Licht getaucht, den Zuschauern seine Mandoline entgegen reckt. Um ihn herum funktioniert seine Band , wie gewohnt, ganz wunderbar als großes Ganzes. „If I die now“ vom aktuellen Tonträger „For new beginnings“ erklingt, „Appregio“ vom Zweitling „Tour de hearts“ folgt und ein überaus rhythmisches „Shotgun sister“ animiert das Publikum vorerst letztmalig zum Tanz. Natürlich verlangt der aufgeheizte Mob nach mehr und bekommt zwei weitere Songs, einer davon „Old man„. Die sympathischen Schweden sind Garanten dafür, Menschen in Begeisterung zu einen und dürften dem Festival sicher den ein oder anderen Besucher mehr beschert haben. Keine Frage, dass Friska Viljor abtrünnigen Biffy Clyro mehr als adäquat ersetzen.

Weiter geht es im Zelt: Supershirt aus Rostock nehmen den Faden ihrer Vorgänger nahtlos auf und versetzen ihr Publikum in Bewegung. Das Duo versteht es, die aufgeheizte Atmosphäre auszunutzen:“Wir von der Ostsee kennen nur eine Belohnung- die süße Faust.“ Schätzungsweise 50 neonfarbene Knicklichter fliegen in die Menge. Es wird mitgegrölt, wo es gerade passend erscheint- „USA der Undertaker ist in der Antifa“.

Bratze aus Hamburg gebührt die Ehre, einen denkwürdigen ersten Festival-Tag beschließen zu dürfen. Fast schon dämonisch betritt Kevin Hamann alias ClickClickDecker die akzentuiert beleutete Bühne. Die Kaputze tief ins Gesicht gezogen, die Beine in eine bequeme Trainingshose gekleidet. Der Tante Renate alias Norman Kolodziej wirkt schon etwas nahbarer. Es folgen pumpende Rhythmen und Sprechgesang- ein elektronischer Teppich wabert über die Besucher hinweg, genau wie Hamann, der die Balustrade der Bühnenumrandung erklimmt und nach eigener Ansage wieder vorsichtig nach unten zurück kehrt, um wieder auf dem Boden der Tatsachen an zu kommen. Die Lichter zucken und verhelfen dem Duo dazu, einen dicken Strich unter den ersten Tag zu ziehen.

Es ist kalt geworden. Sehr kalt sogar. Umso beruhigender also, dass am Samstagmorgen die Sonne strahlt und die Temperaturen auf angenehme 26 Grad Celsius klettern. Einige Festival-Gäste nutzen das kaiserliche Wetter zu einem Abstecher in das nahe gelegene Waldbad, andere frischen ihren Proviant in Braunlage auf.

Wir finden uns in abendlicher Sonne vor der Hauptbühne wieder, können die mäßige Zuschauerresonanz jedoch auch nicht entscheidend aufstocken. Eternal Tango spielen dennoch bemüht und streuen unter anderem eine Version des Queen-Klasikers „Don’t stop me now“ ein oder spielen kurz den Straßenfeger „Satellite“ an. Am Ende steht die Zusammenkunft mit dem erschienenen Publikum.

Es folgen die in Berlin ansässigen Dänen von Dúné, die ihrer Spielfreude sichtlich Ausdruck verleihen, nachdem ein psychedelisches Elektro-Intro ihre Ankunft angekündigt hat. Sänger Mattias Kolstrup wirbelt und springt wie ein derwisch über die Bühne. Das Septett brennt ein wahres Feuerwerk ab, das nicht zuletzt dazu führt, dass sich das Festivalgelände, insbesondere der Bereich vor der Bühne sukzessive füllt und die Stimmung eindeutig steigt.

Im Zelt reiten Schluck den Druck im wahrsten Sinne des und lassen sich während des Songs „Öhlborinsel“ auf Händen tragen. Bei „Es geht noch“ tobt das zum Bersten gefüllte Zelt zum Deickindesquen-Stil des Trios. Die Luft steht, das Publikum nicht.

Mit Itchy Poopzkid folgt der heimliche Headliner des Rocken am Brocken. Das Trio aus Einslingen an der Filz wirkt nahbar und spielt verbal zart auf die kurzfristige Absage Biffy Clyros an:“Es heißt ja, die hätten einen besseren Auftritt bekommen und deshalb abgesagt. Wir hätten das natürlich anders gemacht. Erst hätten wir mehr Geld verlangt und dann wären wir hier geblieben.“ Genau wie ihr Gegenstück Friska Viljor am vorherigen Abend, spielen die Bayer sämtliche Meilensteine ihrer bisherigen Karriere. So etwa „This is living“. Das zahlreiche Publikum hornoriert den Auftritt der sympathischen Bayern mit entsprechendem Beifall.

Im Anschluss folgt der Abschluss. Wieder einmal gastiert der Circus in Form von Bonaparte in der Stadt. Der Berliner Schmelztigel unter der schweizer Direktur eskaliert wie erwartet in einer klaren Nacht im Harz. Provokant wie eh und je, ausgeflippt wie keine andere Band spaltet das Ensemble die Massen. Vielleicht sind auch gerade deswegen die Reaktionen höchst unterschiedlich. Maestro Tobias Jund fegt über die Bretter, wie ein Floh auf Drogen. Zwei Männer, einer mit Pferde-, einer mit Computerbildschirm-Maske, mimen den gleichgeschlechtlichen Coitus. Diese Band geht an die Grenzen. „My Horse likes you“, schreit Lund und das er alles boykottiere was nicht der Fabrikatur seiner eigenen Hände entstamme. Die Songs des gelungenen neuen Albums erzielen jedoch nicht ansatzweise den Effekt, den „Anti Anti“ oder „Too much“ zu erzielen vermögen. Letztendlich ist die Darbietung des Kollektivs ein permanentes auf und ab, das die bereits etwas müde wirkenden Festivalgänger letztmalig fordert. „I said do you wanna party…“

Das „Rocken am Brocken“ 2010 ist Geschichte. Nochmals gilt es den Organisatoren Respekt für die reibungslose Organisation zu zollen. Trotz der zahlreichen, kurzfristigen Absagen potentieller Zugpferde ist es gelungen, die Qualität des Programms aufrecht zu erhalten. Atmosphäre und Miteinander waren durchweg angenehm, die Logisitik der kurzen Wege ideal. Summa-summarum Indikatoren, die die Selbsternennung zu einem der schönsten, kleinen Festivals in Deutschland zu gehören, rechtfertigen.

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